Radio AlHara

Für eine nachhaltigere kuratorische Praxis

26. September 2023 | Rim Irscheid

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©Radio AlHara

Wir möchten an dieser Stelle Kenntnis geben zum Hintergrund der Veröffentlichung des Artikels »Radio AlHara – Für eine nachhaltigere kuratorische Praxis«. Der Text wurde bereits im September verfasst und damit einige Wochen vor dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und den nachfolgenden Ereignissen. Aufgrund der langen Vorlaufzeiten der Heftproduktion war das field notes Magazin Ausgabe November/Dezember 2023 Anfang Oktober bereits finalisiert und im Druck. 

Der Artikel ist politisch neutral und beschreibt lediglich die Kurationspraxis von Radio AlHara. Es ist zu unserer Kenntnis gekommen, dass das Radio AlHara neben Solidaritätsbekundungen für die Zivilbevölkerung Gazas und Spendenaufrufen für humanitäre Zwecke in der jüngeren Zeit unter anderem Personen eine Plattform geboten hat, die unangemessene Inhalte verbreiten. Davon distanzieren wir uns in aller Deutlichkeit.

field notes dient als Plattform, Fürsprecherin und Vermittlerin für die Mitglieder einer Szene, die sich durch ihre interne Diversität und Meinungspluralität auszeichnet – weit über Berlin hinaus. Wir möchten deutlich klarstellen, dass Diskriminierung jeglicher Art darin keinen Platz hat. Dies bezieht explizit Antisemitismus und Angriffe auf jüdisches Leben mit ein. Wir verurteilen den Terrorangriff der Hamas ebenso wie alle antisemitischen Positionen, Aktionen und Agitationen weltweit. Gleichzeitig lehnen wir jegliche Form von Vorverurteilung gegenüber Solidaritätsbekundungen für die Zivilbevölkerung Gazas und friedlichen Protesten ebenso ab wie rassistische Ressentiments. Ebenso grenzen wir uns in aller Deutlichkeit von Positionen ab, die die Zivilbevölkerung von Gaza mit der Hamas gleichsetzen.

Unsere Solidarität gilt allen Opfern.

Katharina Ortmann 

Leitung field notes

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Für eine nachhaltigere kuratorische Praxis

Immer mehr Menschen aus dem Bereich der darstellenden Künste arbeiten als Kurator*innen. Wissenschaftler*innen, Musiker*innen und sogar Repräsentant*innen von Kultureinrichtungen kuratieren regelmäßig Konzerte und Podiumsdiskussionen. Sie entwerfen einen Aufführungsraum, schreiben Pressetexte und gestalten ihre eigenen Erzählungen. 

Doch was verbirgt sich hinter dieser jüngsten Investition in die Praxis der Kuration? Und wie kann nachhaltigere Kuration der Übermacht sogenannter Star-Kurator*innen in der Kunstwelt entgegenwirken? Die Forscherin Rim Irscheid argumentiert, dass ein neues internationales Netzwerk alternativer Einrichtungen mit starken Verbindungen zur Berliner Szene für zeitgenössische Musik die Welt der Kuration verändert.

Historisch betrachtet waren Kurator*innen für die Verteilung des Raums und für Entscheidungen über Repräsentation und Sichtbarkeit zuständig. Sie sind auch, wie Rose Deller es ausdrückte, mächtige Sprachrohre großer Institutionen. Sie entscheiden, wen und wie wir in öffentlichen Einrichtungen und im privaten Sektor sehen und hören. 

Weil sie die Geschmäcker prägen, tragen Kurator*innen eine Verantwortung. Sie gestalten Narrative, indem sie Musiker*innen, Künstler*innen, Objekte und Aufführungen selektieren, um durch sie eine Geschichte zu erzählen, einen historischen Moment oder eine kulturelle Bewegung zu reflektieren. Aber was heißt es, dies auf nachhaltige Weise zu tun?

Im Sammelband »The Next Documenta Should Be Curated by an Artist«, der als Reaktion auf die Documenta11 veröffentlicht wurde, definierten Marina Abramović und andere Künstler*innen die folgenden Eigenschaften nicht nachhaltiger Kuration: mangelnde Sorgfalt, Top-down-Entscheidungsprozesse, Gatekeeping und mangelnde Einbeziehung derjenigen, deren Arbeit und Leben für den europäischen Blick »kuratiert« wird. 

Nachhaltige Kuration hingegen beinhaltet die Zusammenarbeit mit Künstler*innen und die Delegation von Aufgaben an sie: die Gestaltung des Raums, die Auswahl der Künstler*innen, Medien und Formate. Auch schließt die Kuration die Diversifizierung der bei der Entscheidungsfindung konsultierten Personen ein.

Bei meinen Recherchen zu experimentellen Netzwerken mit Schwerpunkt auf elektroakustischer Musik und freier Improvisation ist mir aufgefallen, dass Musiker*innen immer mehr kuratorische Aufgaben übernehmen. Es lässt sich eine allgemeine Bewegung hin zu einer diversitätssensiblen und von Künstler*innen geleiteten Kuration ausmachen. Oder sogar in einigen Fällen der Trend, hinter den Kulissen eines Festivals, einer Ausstellung oder einer Veranstaltungsreihe Nachhaltigkeit und Sorgfalt als Teil des eigenen Narratives zu praktizieren.

Dieser Wandel ist besonders in Berlin zu beobachten. An Veranstaltungsorten wie Morphine Raumarkaoda oder KM28 können die Besucher*innen denselben Musiker*innen dabei zusehen, wie sie an einem Tag experimentelle Musik spielen und am nächsten eine Podiumsdiskussion oder einen Workshop veranstalten. 

Darüber hinaus sind diese neuen Ansätze ausgesprochen international. Beispiele dafür finden sich ebenfalls im Morphine Raum mit seinen Verbindungen zum libanesischen Festival Irtijal, das von den Betreibern des in Berlin und Beirut ansässigen Labels Al Maslakh organisiert wird, und in Kollektiven wie Radio AlHara.

Vertrauen, Sorgfalt, Ergebnisoffenheit

Insbesondere an Radio AlHara zeigt sich, wie die kollektive Nutzung von Ressourcen und der Aufbau weitreichender Verbindungen die alte Machtstrukturen in Frage stellen kann. Mit Blick auf Deutschland heißt das: die Autorität von Kurator*innen in weiß dominierten Räumen, Institutionen und Fördereinrichtungen.

Das Team besteht aus einer Gruppe von Freund*innen mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten. Verantwortung wird geteilt, Entscheidungen auf der Grundlage von Vertrauen, Sorgfalt und Ergebnisoffenheit getroffen. Sie fördern eine kollektive Struktur, die unabhängig von traditionellen Kulturinstitutionen funktioniert.

Die digitale Community-Plattform ging im März 2020 an den Start und sendet aus  Bethlehem, war aber auch an der Organisation und Ausstrahlung von Sendungen aus Berlin, Amman und anderen Städten beteiligt. AlHara streamt in mehreren Sprachen und sendet Live-Performances, Interviews, experimentelle Podcast-Formate, DJ-Sets, kuratierte Playlists, Talkshows und akademische Diskussionen aus dem Nahen Osten und der weltweiten Diaspora.

Seit ihrer Gründung hat die Plattform mehrere Spendenaktionen organisiert, darunter eine für die Explosion in Beirut im August 2020 und eine weitere in Solidarität mit den Teilnehmer*innen an den Protesten nach dem Tod von Jina Amini im Iran. 

AlHara (»die Nachbarschaft«) macht Hörer*innen außerdem zu Produzent*innen. So wird der Sender zu einem wichtigen internationalen Akteur, zur Vorhut einer neuen Bewegung der nachhaltigen Kuration. 

Transparenz und Reflexion

Von Künstler*innen geleitete Einrichtungen und Kommunikationsplattformen wie Radio AlHara verdeutlichen, wie wichtig es ist, Musiker*innen zu ermutigen, sich selbst auszuprobieren und ihre eigenen Narrative zu kuratieren. »Es hängt alles von ihnen ab«, betont auch Saeed Abu-Jaber von AlHara

Abu-Jabers Team legt großen Wert darauf, dass sie über die Stücke und ihre Mixe sprechen und erklären, was die von ihnen gespielte Musik für sie bedeutet und wie sie ihren künstlerischen Werdegang geprägt hat. Das erleichtert es, die Geschichten der Künstler*innen öffentlich zugänglich zu machen und bietet insbesondere aufstrebenden Musiker*innen ausreichend Raum, um sich und ihre Ideen der Welt zu präsentieren.

Der Klangkünstler und Journalist Stefan Christoff ist einer der Produzent*innen, die regelmäßig Beiträge für AlHara erstellen. Er hat eine Reihe von Künstlerinterviews produziert, in denen er mit Musiker*innen aus dem Netzwerk für experimentelle Musik in seiner derzeitigen Heimat Montréal und weltweit spricht. Dazu gehörte auch der in Berlin lebende Fotograf und Musiker Tony Elieh. Er erörterte die Verbindungen zwischen Berlin und Beirut und stellte am Ende der Sendung eines seiner Werke vor.

Christoff und andere AlHara-Produzent*innen geben Künstler*innen Raum, machen ihre Praxis transparent und reflektieren über das Umfeld, in dem sie produzieren und konsumieren. So entstehen Schlaglichter auf regionale Szenen und gleichzeitig internationale Verbindungen.

Abu-Jaber und sein Partner Ibrahim Owais erklären, dass sie und ihr Team bestrebt ist, insbesondere Newcomer*innen mit ihren frischen Ideen und ihrer Leidenschaft für Zusammenarbeit miteinbeziehen zu wollen. Auf der Plattform ist der Austausch von Fähigkeiten, Ressourcen und Netzwerken mehr als deutlich beobachten. Das alles trägt dazu bei, die Community rund um AlHara weiter zu entwickeln.

Vertrauen, Verletzlichkeit und Freundschaft

Vertrauen, Verletzlichkeit und Freundschaft werden im Kontext kuratorischer Praxen weithin unterschätzt, sowohl als Risikofaktor als auch als Möglichkeit im Zusammenhang mit nachhaltigen Ansätzen. Einerseits laufen eng vernetzte Gemeinschaften das Risiko, neue Akteur*innen abzuschrecken. 

Wird es aber andererseits richtig gemacht und Vertrauen in Musiker*innen und Kurator*innen investiert, ergibt sich die Möglichkeit, Infrastrukturen und Netzwerke jenseits bestehender Hierarchien aufzubauen – ob in der deutschen Kulturlandschaft oder anderswo. 

Kulturinstitutionen haben die Möglichkeit, nachhaltige kuratorische Praktiken wie die oben beschriebenen zu unterstützen. Den Künstler*innen sollten sie auf ergebnisoffene Art und Weise die Konzeption neuer Formate ermöglichen und ihnen Räume eröffnen, die von ihnen selbst geleitet werden. Institutionen können also ihre Ressourcen zur Verfügung stellen, um Musiker*innen zu ermutigen, ihre Repräsentation selbstbestimmt zu gestalten. 

Die Förderung von durch Künstler*innen geleiteten, kollaborativen und nachhaltigen kuratorischen Praktiken bietet die Möglichkeit, bestehende Machthierarchien umzukehren. Das kann dazu beitragen, Institutionen und Netzwerke innerhalb einer sich stetig diversifizierenden Berliner Musikszene außerhalb der Sachzwänge deutscher Bürokratie und überholter »Multi-Kulti«-Narrative aufzubauen. 

Kuration ist Macht. Derzeit können wir beobachten, wie diese Macht (um-)verteilt wird. Wir müssen anerkennen, dass die Unterstützung von Künstler*innen beim Ausbau ihrer Netzwerke und dem Einbezug internationaler Kontakte nicht etwa optional, sondern vielmehr verpflichtend ist, wenn nachhaltige Musikräume geschaffen werden sollen, die sich vor allem in Krisenzeiten selbst tragen können.

Über die Autorin

Rim Irscheid ist eine deutsch-jordanische Kuratorin und Forscherin. Sie hat Musikwissenschaft in Heidelberg und Oxford studiert. Ihre im September 2023 eingereichte Doktorarbeit am King's College London befasst sich mit experimentellen Praktiken, Kuration und kulturpolitischen Konzepten für zeitgenössische Musik in Deutschland und im Libanon. Irscheid organisiert das jährliche Symposium Planet Ears in Mannheim und kuratiert Panels, Lecture-Performances, von Künstler*innen geleitete Workshops und Installationen. Das Festival findet jedes Jahr im September statt und hat bisher mit Kurator*innen des Festivals Irtijal (Libanon), Al Balad Theatre (Jordanien), Space21 (Irakisch-Kurdistan) und Norient (Schweiz) kollaboriert.

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