Ihr seid jetzt seit einem halben Jahr in Berlin. Wie fühlt ihr euch und was ist euer erster Eindruck von der hiesigen zeitgenössischen Musikszene?
Daria Vdovina: Es fühlt sich in vielerlei Hinsicht gut an. Es ist zwar seltsam, von zu Hause weg zu sein, aber gleichzeitig ist Berlin ein sehr lebendiger Ort. Und was die Musik angeht, ist es wirklich the place to be. Die Szene war sehr offen, und wir haben recht schnell viele Organisationen, Festivals, Institutionen und vor allem Musiker*innen kennengelernt. Ein guter Ausgangspunkt dafür war die Konferenz »Time to Listen«, bei der wir mit vielen Leuten ins Gespräch kommen konnten. Wir wurden außerdem zum Impuls Festival eingeladen, wo wir die Gelegenheit hatten, eine Keynote zu halten und eine Performance mit einem ukrainischen Musiker zu präsentieren. Wir sind all den Menschen dankbar, die auf uns zugekommen sind und uns für Kollaborationen eingeladen haben. Auch die Zusammenarbeit mit den Ensembles KNM Berlin und ensemble mosaik, bei denen unsere KCMD-Kollegen Albert Saprykin und Mykhailo Chedryk Stipendiaten im Programm Weltoffenes Berlin sind, ist sehr fruchtbar.
Was sind die größten Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Musikszenen in Berlin und Kyjiw?
Albert Saprykin: Die Anzahl der Veranstaltungen mit neuer Musik in Berlin ist schier überwältigend. Die Szene, so wie sie heute ist, hat sich seit 30 Jahren entwickelt und man hat das Gefühl, dass dies das Ergebnis der bewussten Arbeit am Aufbau einer Szene ist. Ich wurde sagen, dass die Szene in Kyjiw auf demselben Weg ist, aber in einem früheren Stadium. Die neue Musikszene in Kyjiw ist etwas kleiner. Dafür haben wir den Luxus, ein großes und neugieriges Publikum anzuziehen. Eine klare Gemeinsamkeit ist die große Vielfalt an Stilen in Hinsicht auf die Ästhetik und Formate, die man sowohl in Berlin als auch in Kyjiw finden kann.
Gab es Herausforderungen, denen ihr in Deutschland begegnet seid?
AS: Es gibt eher einen Unterschied in der Art und Weise, wie an die Dinge herangegangen wird und wie lange es dauern kann, etwas zu planen. Wir haben schnell gemerkt, dass die Dinge hier auf der administrativen und bürokratischen Ebene viel mehr Zeit brauchen.
Einige eurer Kolleg*innen vom KCMD sind noch in der Ukraine tätig, andere arbeiten im Exil. Wie haltet ihr eure Arbeit als Team aufrecht?
DV: Es gibt Schwierigkeiten, aber es gibt auch Vorteile. Zum Beispiel können wir wegen der Zeitverschiebung fast behaupten, dass wir jetzt 24 Stunden arbeiten. Aber es gab auch einen Punkt, an dem es in Kyjiw heftige Bombardierungen gab. Unsere Kolleg*innen hatten keinen Strom und fühlten sich manchmal nicht sicher genug, um zu Hause zu bleiben und zu arbeiten. Doch die Menschen in Kyjiw sind sehr stark und beeindruckend organisiert. Ich glaube, dass es für sie in vielerlei Hinsicht gut war, dass es Projekte aus dem Ausland gab. Abgesehen von der finanziellen Unterstützung der Festival-Struktur, lenkt die Arbeit von den alltäglichen Problemen ab und sie können sich aktiv an der Schaffung neuer Projekte beteiligen, die einen höheren Wert für sie haben.
AS: Diejenigen, die in Kyjiw geblieben sind, sind aus freien Stücken dort. Es war eine bewusste Entscheidung. Tatsächlich sind die Kapazitäten unserer Organisation seit dem 24. Februar sogar gewachsen, da einige Mitarbeiter*innen begonnen haben, mehr Zeit der Arbeit bei KCMD zu widmen, sei es in Bezug auf die Unterstützung von Musiker*innen in der Ukraine im Rahmen unseres Stiftungsprojekts oder für Projekte, die ukrainische Kultur im Ausland fördern. Außerdem gibt es eine Menge Leute, die sich dem Team im letzten Jahr angeschlossen haben.
Russlands Angriffskrieg und sein offenkundiges Bestreben, ukrainische Kultur auszulöschen, hat ironischerweise dazu geführt, dass sie heute sichtbarer ist denn je. Ist die Selbstbehauptung der ukrainischen Kultur und ihre internationale Verbreitung auch eine treibende Kraft für eure Arbeit?
Les Vynogradov: Als die Invasion begann, war ich bereits an Projekten der Kulturdiplomatie beteiligt. Das war etwas, das ich schon immer für wichtig hielt, weil die Ukraine international leider nicht sehr bekannt ist. Sie ist zunächst einmal kein ehemaliges Imperium und zudem wurde sie historisch gesehen lange Zeit unterdrückt und kolonialisiert. Die Folge war, dass sich die Welt nicht wirklich dafür interessierte, als im Jahr 2014 der Krieg begann. Die Europäische Union hatte nicht das Gefühl, dass die Ukraine Teil des europäischen Raums war, oder zumindest nicht genug, um ihr zu helfen und eine bedeutende Unterstützung zu leisten – weder militärisch noch psychologisch. Bei der ukrainischen Revolution, dem Euromaidan 2014, drehte sich alles um Europa und darum, dass die Ukrainer*innen sich als Teil Europas fühlen. Dann griff Russland an, und viele Menschen, mich eingeschlossen, hatten zum ersten Mal das Gefühl, dass Europa nicht dasselbe für die Ukraine empfindet. Zu zeigen, dass die Ukraine zu Europa gehört, ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Seit der Invasion verspüre ich natürlich den Drang, noch mehr zu tun und zu zeigen, dass die ukrainische Kultur eine europäische Kultur ist und dass sie aktiv zerstört wird. Es gibt viele Dinge, die unsere europäischen Mitbürger*innen nicht über die Ukraine wissen. Wir glauben aber, dass es sehr bereichernd für sie sein konnte.
In Abgrenzung zu Russland findet in der Ukraine gerade eine neue Identitätsbildung statt. Hat diese Rückbesinnung und Wiederbelebung ukrainischer Traditionen und künstlerischer Praktiken auch Auswirkungen auf die Musik, die heute komponiert wird?
DV: In der Tat kann die Wiederherstellung, -erforschung und -entdeckung der Wurzeln der ukrainischen Kultur derzeit quasi überall beobachtet werden. Das ist eine Reaktion auf die von Russland ausgehende Unterdrückung traditioneller Handwerke und künstlerischer Formen des Selbstausdrucks. Es ist nur so, dass dies vielleicht in manchen Musikgenres sichtbarer ist als in anderen. Vor allem in der Popkultur können wir beobachten, dass auf Musikinstrumente zurückgegriffen wird, die für bestimmte Regionen sehr spezifisch sind. Mit elektronischen Mitteln und unterschiedlichen Technologien geben einige Künstler*innen in Vergessenheit Geratenem einen neuen Dreh. Auf diese Weise versuchen sie, zeitgenössische Ansätze mit einer Tradition zu verbinden, die durch die lange Unterdrückung durch die Sowjetunion in Vergessenheit geraten ist. Dies geschieht auch in der neuen Musik. Es dauert aber länger, bis sich das in der Komposition zeigt, weil es sich bei deren Entstehung um einen langsameren Prozess handelt.
AS: Es gibt in der Tat einige Künstler*innen, die sich mit folkloristischer Musik und den Traditionen befassen, die in der Ukraine seit vielen Jahrhunderten bestehen. Aber die Art und Weise, wie die Komponist*innen dies in ihre künstlerischen Praxis integrieren, ist sehr unterschiedlich. In meinen Werken interessiere ich mich zum Beispiel sehr für Multiphonics und die Art und Weise, wie sie in der ukrainischen Folklore eingesetzt werden. Aber das ist nur ein Ausgangspunkt. Es klingt letztlich überhaupt nicht nach Volksmusik.
Was würdet ihr sagen sind die Besonderheiten der ukrainischen Musik?
LV: Es besteht die Annahme, dass die ukrainische Musik, einschließlich der klassischen Musik, stark von volkstümlichen Motiven beeinflusst wurde. Das stimmt nicht unbedingt. Mit unserer Arbeit versuchen wir zu zeigen, dass die ukrainische Musik viel komplexer ist. Ein sehr wichtiger Aspekt der ukrainischen Musik ist, dass die Ukraine aufgrund ihrer geografischen und politischen Geschichte kulturell sehr vielfältig ist. Wir haben verschiedene Regionen mit unterschiedlichen Einflüssen, die man auch in der Musik deutlich hören kann. Zum Beispiel wurden einige Komponist*innen aus der Westukraine von der Musik der Huzul*innen, einer Volksgruppe in den Karpaten, inspiriert. Die Menschen in der Ost- oder Nordukraine hingegen schöpften aus anderen Quellen. Es gab viele Strömungen, die die ukrainische Musik beeinflusst haben. Die russische Schule war sicherlich ein großer Einfluss, die Wiener ein anderer. Auch die Einwanderung hatte einen großen Einfluss. Wichtige ukrainische Musikbewegungen wurden von Musiker*innen aus der Diaspora begründet, die entweder nach der bolschewistischen Revolution 1917 oder nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewandert sind. Diese Komponist*innen wurden von allen westlichen Trends der Zeit beeinflusst, bewahrten aber gleichzeitig ihre ukrainische Identität. Hier gibt es noch viel zu erforschen.
Glaubt ihr, dass sich das Bild der Ukraine oder der ukrainischen Kultur in Europa inzwischen geändert hat?
LV: Das ist eine gute Frage. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es noch zu früh ist, um mit Sicherheit sagen zu können, ob sich das Bild geändert hat oder nicht, da die Invasion erst ein Jahr zurückliegt. Aber ich denke, dass ein Prozess in Gang gesetzt wurde, dessen Ergebnisse wir erst in fünf oder zehn Jahren sehen werden. Im akademischen Diskurs kann ich bereits erkennen, dass Russland zunehmend getrennt vom Rest Osteuropas betrachtet wird. Lange Zeit haben alle Institute, die sich auf diese Region spezialisieren, den Fokus ihrer Arbeit auf Russland gelegt. Jetzt erleben wir endlich die Emanzipation der Ukrainistik als Teil Osteuropas mit Polen, Litauen und Belarus und in Abgrenzung zu Russland. Es gibt daran auch viel Kritik. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ein Umdenken im akademischen Diskurs auf lange Sicht unvermeidlich ist. Das hatte schon vor 30 Jahren geschehen müssen. Und ich glaube, dass sich die Idee des »Postsowjetischen« jetzt auflöst. Es geht dabei nicht nur um Kultur. Es geht um die breite Öffentlichkeit und den intellektuellen Diskurs. Ich hoffe sehr, dass das Verständnis für die ukrainische Kultur in Europa mittlerweile ein bisschen tiefer ist und dass die Menschen anfangen zu verstehen, dass es die ukrainische Kultur überhaupt gibt und dass sie sich von der russischen Kultur unterscheidet. Ich denke auch, dass heutzutage nur noch wenige Menschen die beiden Lander verwechseln werden.
Aus deutscher Sicht ist das Interesse an ukrainischer Musik derzeit sehr groß. Das spiegelt sich auch in den vielen Kooperationen wider, die ihr innerhalb von nur einem halben Jahr eingegangen seid. Wie schafft ihr es, dieses plötzliche Interesse und die neu gewonnenen Verbindungen nachhaltig zu gestalten?
AS: Die ukrainische Kultur hat viel mehr Aufmerksamkeit erhalten als zuvor, was sehr wertvoll ist, da die Ukraine wieder einmal nicht nur um ihr Territorium, sondern auch um das Recht auf ihre eigene Kultur kämpfen muss. Die Kultur ist der Ort, an dem wir unser Recht verteidigen, uns als unabhängige Einheit zu definieren. Ich denke, das Wichtigste ist, mehr und mehr Möglichkeiten für einen nachhaltigen Austausch zu schaffen, der nicht ad hoc erfolgt.
Eine Möglichkeit, dauerhafte und nachhaltige Verbindungen zu schaffen, scheint das Festival zu sein, das ihr im Sommer ausrichtet. Könnt ihr uns davon etwas erzählen?
AS: Wir planen für diesen Sommer eine Reihe von Konzerten in Berlin. Wir wollten Berührungspunkte zwischen Vertreter*innen der Musikszenen in Berlin und Kyjiw schaffen und dem Berliner Publikum die ukrainische Neue-Musik-Szene von den sechziger Jahren bis heute vorstellen. Das ensemble mosaik hat uns eingeladen, bei ihrem Festival UpToThree am 10. und 11. Juni im Acker Stadt Palast den ukrainischen Teil des Programms zu kuratieren. Die Stucke werden sowohl vom ensemble mosaik als auch von ukrainischen Interpret*innen aufgeführt.
DV: Am 29. Juni wird es voraussichtlich ein Konzert im Ballhaus Ost mit überwiegend ukrainischen Musiker*innen geben. Es ist geplant, dass das Streichquartett Nota Bene spielt und dann gibt es einen experimentellen Teil mit elektroakustischer Musik von Yana Shliabanska und dem Posaunisten Weston Olencki. Wir organisieren außerdem ein Konzert zusammen mit dem Ensemble KNM am 1. Juli in der Villa Elisabeth, bei dem Komponist*innen aus der Ukraine und anderen europäischen Ländern wie Rebecca Saunders, Adrian Mocanu, Anna Arkushyna, Anton Koshelev, Clemens Gadenstätter and Anna Korsun auf dem Programm stehen, die von KNM und dem ukrainischen Kontrabassisten Nazarii Stets aufgeführt werden. Außerdem wird es vor dem Konzert eine Diskussion und eine Vorführung des KNM-Projekts »Listening Cities – Kyiv Edition« geben.