»Musik ist mehr!«

Matthias Schwabe über das exploratorium am neuen Standort

18. August 2023 | Kristoffer Cornils

Matthias Schwabe mit einem seiner Lieblingsinstrumente, dem PET-Flaschophonium (Foto von Christian Schwanke)
©Christian Schwanke

Am Hauseingang der Zossener Straße 24 in Kreuzberg wird noch geschraubt, als Matthias Schwabe nach einem kurzen Telefonanruf aus dem Treppenhaus kommt – auch die Klingel funktioniert noch nicht. Bei einem kurzen Rundgang durch die Räumlichkeiten geht es über auf den Treppen verstreuten Kabeln und Handwerkern entlang, die noch am Bohren sind. 

Es wirkt, kurzum, alles sehr provisorisch an der neuen Adresse des exploratorium. Passenderweise, wie gesagt werden muss, handelt es sich doch dabei doch, wie auch auf Schwabes T-Shirt zu lesen ist, um einen »Raum für Improvisation«. 

Mit field-notes-Redakteur Kristoffer Cornils sprach der Gründer des exploratoriums über den Umzug von den Sarottihöfen ins Herz des Bergmannskiezes, die geplanten Eröffnungsfeierlichkeiten am 1. September und danach sowie die Relevanz von Improvisation heute. 

Das exploratorium wurde im Jahr 2004 eröffnet und war gut 19 Jahre am Mehringdamm beheimatet. Warum der Umzug?

Bei uns änderte sich nach einer Prüfung durch das Finanzamt die Umsatzsteuerverpflichtung, an die aber der Mietvertrag gekoppelt war. Unser Vermieter hat daraufhin den Vertrag gekündigt, der preislich für uns sehr günstig war. Als wir auf die Schnelle nichts fanden, hat er sich darauf eingelassen, dass wir fünf weitere Jahre und natürlich zu einem erhöhten Mietpreis. Mittlerweile sind die Preise dort aber so gestiegen, dass auch die meisten anderen Mieter aus den Sarottihöfen ausgezogen sind.

Das ist eine für Berlin mittlerweile schon klassische Geschichte. Weniger klassisch ist, dass ihr einen Ort in zentraler Lage gefunden habt, dessen Räumlichkeiten obendrein noch größer sind …

… und es war die einzige Option, die wir hatten! (lacht) Besser hätte es nicht kommen können. Wir haben unsere Fühler in alle Richtungen ausgesteckt und baten einen Architekten, Räume mit uns zu begutachten. Es stellte sich heraus, dass er die neuen Räume verwaltet. »Ich glaube, da habe ich was für euch«, meinte er. (lacht) Wir sind dann aber in eine blöde Zeit hineingeraten: Die Pandemie kam und es hat ewig gedauert, die Baugenehmigungen zu erhalten. Anfangen konnten wir erst zu einem Zeitpunkt, als die Baufirmen komplett überlastet waren. Dadurch hat sich alles verzögert, einige Dinge wurden immer noch nicht geliefert. Die Bauphase war daher sehr anstrengend, aber im Grunde haben wir ganz großes Glück gehabt. Wir haben großartige Vermieter, die unser Projekt toll finden und mit denen wir uns auf Konditionen einigen konnten, die für beide Seiten fair sind. 

Ihr habt offensichtlich viel umgebaut.

Es wurde einiges geändert. Daran haben sich die Vermieter tatkräftig beteiligt. Sie haben uns sogar noch ein weiteres Stockwerk auf unseren Konzertsaal draufgesetzt. Damit haben wir zusätzlich zu einem Raum im Keller noch zwei weitere für Workshops. Den Konzertsaal im Erdgeschoss hatten wir als exploratorium schon einmal gemietet, als wir vor gut zehn Jahren unsere damaligen Räume nach einem Brand nicht nutzen konnten. Schon damals fanden wir ihn toll.

Verbreitet sich mit dem hinzugewonnen Raum auch euer Angebot?

Im Jahr 2020 ist eine neue Kollegin zu uns gestoßen, die aus der Arbeit mit Kindern kommt und bei uns eine entsprechende Abteilung aufbaut. Das wollen wir verstetigen und bieten mittlerweile beispielsweise Workshops für Schulklassen an. Das war vorher logistisch nicht immer leicht zu organisieren, doch haben wir dafür nun mit einem Konzertsaal und drei Workshop-Räumen mehr Möglichkeiten. Mit unserem Programm arbeiten wir jedoch weiterhin improvisatorisch und planen fürs Erste nicht, neue Veranstaltungen hinzuzufügen. Wir behalten vielmehr das aktuelle Geschehen im Auge und reagieren darauf. Eines unserer kontinuierlichen Vermittlungsangebote wird von Peter Jarchow ausgerichtet, der nach der Wende in Leipzig den deutschlandweit einzigen Studiengang für Improvisation aufgebaut hat. Er ist längst im Ruhestand, bietet bei uns aber eine monatliche Weiterbildung an. Ich selbst komme aus der Richtung von Lilli Friedemann, deren Arbeitsweise eine vorbedingungslose war und die den Fokus auf das Experiment mit Klängen in den Vordergrund stellt. Deswegen ja auch exploratorium und nicht Improvisatorium: Die Suchbewegung steht im Zentrum. So bieten wir verschiedene Vermittlungsansätze improvisatorischer Praktiken für unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Vorkenntnissen an und versuchen, das zu verbreitern. Mit unserem Programm für Erwachsene haben wir über viele Jahre hinweg eine Stammklientel aufgebaut. Mit den für Kinder ausgerichteten Angebote sprechen wir jetzt einen Nachwuchs an, den die zeitgenössische Musik dringend braucht. Insbesondere die Arbeit mit Schulen finde ich wichtig. In meiner Rolle als Lehrkraft an der Universität der Künste fällt mir immer wieder auf, dass viele Studierende wenig Beziehung zu zeitgenössischer Musik haben. Dabei sollte das ebenso zu ihrer Ausbildung gehören wie Bach oder die Romantik! Unseren Bildungsauftrag würde ich deshalb so formulieren: »Musik ist mehr!« Es ist mir in diesem Sinne ebenfalls wichtig, den Nachwuchs unter den Dozent*innen zu fördern. Durch die Arbeit mit Kindern stießen viele neue Kolleg*innen aus der jüngeren Generation zu uns, die kreative Ansätze in ganz verschiedenen Kunstformen vermitteln. 

Ihr betont auch immer die soziale Dimension und ihre politischen Komponenten von Improvisation. Welches gesellschaftliche Potenzial siehst du in der Improvisation?

Ein sehr großes! Politik war für mich immer wichtig und in der Improvisation denke ich sie mit der Musik zusammen. Ich habe ein großes Faible für flache Hierarchien und Improvisation im Ensemble ist ein gutes Beispiel dafür. Lilli Friedemann wollte noch ein letztes Buch schreiben und dem ein Motto voranstellen: »Ordnung ohne Herrschaft, nur ein Traum? Hier ist es möglich, im kleinen Raum.« Natürlich kann das, was zwischen acht Menschen funktioniert, nicht ohne weiteres auf ein Staatsgebilde angewendet werden. Eine Utopie im Kleinen zu erschaffen, ist aber möglich. Dazu gehört es, Verantwortung zu übernehmen – für den musikalischen Prozess, für die Gruppe und für mein eigenes Handeln. In Erfahrungsräumen, in denen die Menschen sich ausprobieren, neue Erfahrungen sammeln und sich untereinander austauschen können, nehmen sie einander ernst. Beim Improvisieren handeln wir kontinuierlich einen musikalischen Prozess miteinander aus, ohne währenddessen darüber verbal zu debattieren. Das ist eigentlich ein unglaublicher Vorgang! Und wenn wir uns Improvisation in pädagogischer Hinsicht ansehen, erscheint mir besonders wichtig, dass es sich nicht um Lernen durch Instruktion handelt. Niemand steht vorne und weiß es besser als alle anderen. Stattdessen geht es darum, Möglichkeiten zu schaffen, Klänge und deren Gestaltung selbst zu erkunden. Das macht mehr Spaß, als es beigebracht zu bekommen, und es führt vor allem zu mehr Selbstermächtigung. 

In diesem Sinne betreibt ihr als Institution auch interkulturelle Arbeit. Wie würdest du in dieser Hinsicht eure Verantwortung definieren, vor allem im Kontext eurer neuen Heimat, dem Bergmannkiez?

Wir nutzen die Möglichkeit, offene Veranstaltungen anzubieten, in die die Menschen einbezogen werden. Ich möchte aber kein Missionar sein. Zwei Wochen nach der Eröffnung werden wir ein Nachbarschaftsfest ausrichten, damit unsere Nachbar*innen uns kennenlernen können. Ob es uns im Sinne sogenannter Community-Musik gelingen wird, in die Nachbarschaft einzuwirken, weiß ich nicht. Wir werden es aber probieren. Unser Format Offene Bühne etwa lädt alle Menschen dazu ein, vorbeizukommen und spontan miteinander Ensembles zu formen. Unsere Musik ist natürlich sehr speziell, was manche Leute abschreckt. Bei der Fête de la Musique beobachten wir drei verschiedene Reaktionen von neuen Besucher*innen. Die einen kehren nach einer Minute um, andere sind begeistert und manche finden es zwar gewöhnungsbedürftig, aber doch interessant. (lacht) 

Bei eurem Eröffnungswochende spielst du selbst mit – als Teil von Ex Tempore Reloaded. Wie kam es dazu?

Ex Tempore ist das Ensemble, das Eiko Yamada, Herwig von Kieseritzky und ich im Jahr 1986 mit Lilli Friedemann gegründet haben. Damals war sie 80 Jahre alt und wir 28! (lacht) Obwohl wir drei Jüngeren uns einander nicht ausgesucht hatten, sondern von Lilli zusammengebracht worden waren, haben wir uns toll verstanden. Bis zum Jahr 1988 haben wir mit ihr zusammen konzertiert. Danach haben wir uns als Trio einen guten Ruf als Performance-Ensemble erspielt, wobei wir Konzepte entworfen haben, die improvisatorisch umgesetzt wurden. Herwig ist leider im Jahr 2006 verstorben, Eiko ist nach Süddeutschland gezogen und mein beruflicher Schwerpunkt hat sich von der künstlerischen Arbeit auf den Betrieb des exploratorium verlagert. Was ich allein in den ersten Jahren in den von mir organisierten Konzerten gesehen und gehört habe, ließ mich denken, dass ich dort als Künstler nicht gebraucht werde. (lacht) Jetzt wieder mit Ex Tempore aufzutreten, passt dennoch. Zum einen haben wir mit diesem Ensemble im Jahr 2004 das exploratorium eröffnet, woran ich gerne anknüpfen möchte. Zum anderen war eine unserer Spezialitäten raumbezogenes Arbeiten und wir wollen mit unserer Performance den neuen Raum hinsichtlich seiner klanglichen und vielleicht auch visuellen Besonderheiten erkunden und präsentieren, wobei Alltagsgegenstände als Klangerzeuger durchaus eine wichtige Rolle spielen können. Dafür haben Eiko und ich noch andere Künstler*innen dazugeholt: Mit der Tänzerin Anna Barth arbeite ich seit vielen Jahren zusammen, sie kommt aus dem Butoh. Auch Wolfgang Schliemann kenne ich seit langem, er hat ebenfalls ein Faible für raumbezogenes Arbeiten. Die Fünfte im Bunde ist Aida Shahidi, eine frühere Studentin von mir, die eine tolle Performerin ist. 


Dazu gesellt sich das sogenannte Opening Ensemble

Es handelt sich um Leute, die seit Jahren mit dem exploratorium verbunden sind. Aus Berlin sind etwa Ute Wassermann und Biliana Voutchkova dabei, die beide bei uns als Dozentinnen tätig sind. Aber auch Franz Hautzinger aus Wien ist mit von der Partie, ebenso wie die Tänzerin Fine Kwiatkowski, die aus Sizilien anreist. Ob dieses Nonett vorwiegend im Tutti auftritt oder eher in diversen Kleingruppen wird sich zeigen. Das Opening Ensemble und Ex Tempore Reloaded sollen den musikalischen Teil unserer Arbeit repräsentieren. Das dreitägige Programm umfasst aber natürlich noch mehr. Am zweiten Tag gibt es 15 Schnupper-Workshops à 90 Minuten! (lacht) Die Dozent*innen stammen zum Teil aus dem Opening Ensemble, wir wollen aber auch andere Kunstformen abdecken. Pedro Kadivar bietet einen Kurs zur Theaterimprovisation an, Johann Reißer einen zu Poesie. Auch Lauren Newton ist dabei. Sie wird zudem am Sonntag künstlerisch bei einer Ausgabe des Denkraum vertreten sein. Für diese Veranstaltung haben wir auch Georg Bertram eingeladen, der sich als Philosoph mit dem Thema Improvisation beschäftigt und gemeinsam mit Michael Rüsenberg das Buch »Improvisieren! Lob der Ungewissheit« veröffentlicht hat. Dazu gesellen sich noch Kinder- und Familien-Workshops und natürlich eine Offene Bühne – seit Beginn unser erfolgreichstes Format! 

Was war euch bei der Planung für die ersten Monate am neuen Standort besonders wichtig? 

Im Grunde sind wir vorgegangen wie immer, haben aber mehr Möglichkeiten. So haben wir als nächstes das Schlippenbach Quartett eingeladen. In der Regel sind seine Auftritte ausverkauft und es wird erfahrungsgemäß etwas eng! (lacht) Das ändert sich jetzt, weil der Konzertsaal größer ist. So toll ich es allerdings finde, wenn viel Publikum für die alten Heroen kommt: Die nächste Generation ist richtig gut und hat ebenfalls volle Konzertsäle verdient!

Was macht diese Generation aus?

Die alte Garde kam teils aus dem Free Jazz, teils aus der Neuen Musik und hatte in den sechziger Jahren eine andere Aufgabe. Sie mussten etwas aufbrechen. Aktuell geht es eher um die Weiterentwicklung des Materials durch die nächsten Generationen.

Ihr selbst gehört mittlerweile zur älteren Generation: Im kommenden Jahr feiert das exploratorium 20. Geburtstag. Welche Aufgaben siehst du auf euch zukommen, was eine »Weiterentwicklung des Materials« anbelangt?

Diese Weiterentwicklung betreiben nicht wir, sondern die Musiker*innen. Wir können aber ein offenes Ohr für sie haben. Nachwuchsförderung ist uns sehr wichtig und wir bemühen uns, in diesem Bereich aktiver zu werden. Ähnliches gilt für das Thema Diversität. Experimentelle Musik ist ein sehr weißes, westliches Phänomen. Obwohl es nicht immer leicht ist, mehr interkulturelle Zugänge zu schaffen, bleibt das eine wichtige Aufgabe. Gerne würde ich in Zukunft neben der Reihe Improvisation International eine weitere Reihe aufbauen, mit mehr Auftrittsmöglichkeiten für Künstler*innen, die noch am Anfang stehen und nur selten auf internationaler Ebene oder an etablierten Orten spielen können. Das gab es schon, musste aber eingestellt werden, weil das Personal dafür fehlte. Unser Angebot für Kinder und vor allem die Ferienkurse werden gut aufgenommen und es bieten sich viele tolle Kooperationsmöglichkeiten wie zum Beispiel während des Kinderkulturmonats. Einen konkreten Plan aber haben wir nicht. Wir versuchen einfach weiterhin, Impulse zu setzen.

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Exploratorium

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Die musikalische Improvisation, aber auch das Improvisieren in anderen Kunstformen – Bewegung, Theater, Poesie und Bildende Kunst – steht im Mittelpunkt der Arbeit des 2004 gegründeten exploratorium berlin, einem Zentrum für improvisierte Musik und kreative Musikpädagogik.