Ihr betont auch immer die soziale Dimension und ihre politischen Komponenten von Improvisation. Welches gesellschaftliche Potenzial siehst du in der Improvisation?
Ein sehr großes! Politik war für mich immer wichtig und in der Improvisation denke ich sie mit der Musik zusammen. Ich habe ein großes Faible für flache Hierarchien und Improvisation im Ensemble ist ein gutes Beispiel dafür. Lilli Friedemann wollte noch ein letztes Buch schreiben und dem ein Motto voranstellen: »Ordnung ohne Herrschaft, nur ein Traum? Hier ist es möglich, im kleinen Raum.« Natürlich kann das, was zwischen acht Menschen funktioniert, nicht ohne weiteres auf ein Staatsgebilde angewendet werden. Eine Utopie im Kleinen zu erschaffen, ist aber möglich. Dazu gehört es, Verantwortung zu übernehmen – für den musikalischen Prozess, für die Gruppe und für mein eigenes Handeln. In Erfahrungsräumen, in denen die Menschen sich ausprobieren, neue Erfahrungen sammeln und sich untereinander austauschen können, nehmen sie einander ernst. Beim Improvisieren handeln wir kontinuierlich einen musikalischen Prozess miteinander aus, ohne währenddessen darüber verbal zu debattieren. Das ist eigentlich ein unglaublicher Vorgang! Und wenn wir uns Improvisation in pädagogischer Hinsicht ansehen, erscheint mir besonders wichtig, dass es sich nicht um Lernen durch Instruktion handelt. Niemand steht vorne und weiß es besser als alle anderen. Stattdessen geht es darum, Möglichkeiten zu schaffen, Klänge und deren Gestaltung selbst zu erkunden. Das macht mehr Spaß, als es beigebracht zu bekommen, und es führt vor allem zu mehr Selbstermächtigung.
In diesem Sinne betreibt ihr als Institution auch interkulturelle Arbeit. Wie würdest du in dieser Hinsicht eure Verantwortung definieren, vor allem im Kontext eurer neuen Heimat, dem Bergmannkiez?
Wir nutzen die Möglichkeit, offene Veranstaltungen anzubieten, in die die Menschen einbezogen werden. Ich möchte aber kein Missionar sein. Zwei Wochen nach der Eröffnung werden wir ein Nachbarschaftsfest ausrichten, damit unsere Nachbar*innen uns kennenlernen können. Ob es uns im Sinne sogenannter Community-Musik gelingen wird, in die Nachbarschaft einzuwirken, weiß ich nicht. Wir werden es aber probieren. Unser Format Offene Bühne etwa lädt alle Menschen dazu ein, vorbeizukommen und spontan miteinander Ensembles zu formen. Unsere Musik ist natürlich sehr speziell, was manche Leute abschreckt. Bei der Fête de la Musique beobachten wir drei verschiedene Reaktionen von neuen Besucher*innen. Die einen kehren nach einer Minute um, andere sind begeistert und manche finden es zwar gewöhnungsbedürftig, aber doch interessant. (lacht)
Bei eurem Eröffnungswochende spielst du selbst mit – als Teil von Ex Tempore Reloaded. Wie kam es dazu?
Ex Tempore ist das Ensemble, das Eiko Yamada, Herwig von Kieseritzky und ich im Jahr 1986 mit Lilli Friedemann gegründet haben. Damals war sie 80 Jahre alt und wir 28! (lacht) Obwohl wir drei Jüngeren uns einander nicht ausgesucht hatten, sondern von Lilli zusammengebracht worden waren, haben wir uns toll verstanden. Bis zum Jahr 1988 haben wir mit ihr zusammen konzertiert. Danach haben wir uns als Trio einen guten Ruf als Performance-Ensemble erspielt, wobei wir Konzepte entworfen haben, die improvisatorisch umgesetzt wurden. Herwig ist leider im Jahr 2006 verstorben, Eiko ist nach Süddeutschland gezogen und mein beruflicher Schwerpunkt hat sich von der künstlerischen Arbeit auf den Betrieb des exploratorium verlagert. Was ich allein in den ersten Jahren in den von mir organisierten Konzerten gesehen und gehört habe, ließ mich denken, dass ich dort als Künstler nicht gebraucht werde. (lacht) Jetzt wieder mit Ex Tempore aufzutreten, passt dennoch. Zum einen haben wir mit diesem Ensemble im Jahr 2004 das exploratorium eröffnet, woran ich gerne anknüpfen möchte. Zum anderen war eine unserer Spezialitäten raumbezogenes Arbeiten und wir wollen mit unserer Performance den neuen Raum hinsichtlich seiner klanglichen und vielleicht auch visuellen Besonderheiten erkunden und präsentieren, wobei Alltagsgegenstände als Klangerzeuger durchaus eine wichtige Rolle spielen können. Dafür haben Eiko und ich noch andere Künstler*innen dazugeholt: Mit der Tänzerin Anna Barth arbeite ich seit vielen Jahren zusammen, sie kommt aus dem Butoh. Auch Wolfgang Schliemann kenne ich seit langem, er hat ebenfalls ein Faible für raumbezogenes Arbeiten. Die Fünfte im Bunde ist Aida Shahidi, eine frühere Studentin von mir, die eine tolle Performerin ist.