Giada Dalla Bontà: Sonic Agency in unnachhaltigen Welten
Doch sagt Fürst Myschkin, der Held von Dostojewskis Roman »Der Idiot«, den Satz nie in dieser Form. Vielmehr wird er gefragt, ob er wirklich einmal erklärt habe, dass Schönheit die Welt rette würde – und quittiert dies lediglich mit Schweigen. Obwohl im Roman die Schönheit seiner geliebten Nastassja Filippowna als weltverändernd beschrieben wird, erkennt er in dem, was durch die zarten Züge ihres Porträts schimmert, zuallererst ein Leiden. Dostojewski konzipierte Myschkin als Archetyp eines ganz und gar schönen Menschen, der sich in eine komplizierte Welt geworfen fand, die seine geliebte Nastassja töten und ihn selbst in den Wahnsinn treiben würde – zurück in das Sanatorium, aus dem er kam.
Jenseits von Dostojewskis ethisch-theologischem Konzept von Schönheit und Leid haben Soziolog*innen und Psycholog*innen jedoch die Fähigkeit der Kultur und der Musik belegt, unsere emotionale Verfassung und Denkweisen zu beeinflussen. Mittelbar wirken sie sich auch auf unser zwischenmenschliches Verhalten und unser Identitätsgefühl aus. Musik ist wichtig, und ebenso sind es die Informationen, die sie sozial und affektiv vermittelt.
Diese Ergebnisse geben Halt in einer Zeit, in der diskriminierende Politik auf dem Vormarsch ist, Menschen vor Kriegen fliehen und anthropogene Klimakatastrophen unter unseren verzweifelt untätigen Blicken den Punkt der Unumkehrbarkeit zu erreichen drohen. Die Verflechtung der aktuellen Probleme scheint die menschliche Fähigkeit, zu verstehen und zu handeln, zu übersteigen und zu lähmen. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine ganze Ökologie nicht-menschlicher Akteure Bedeutungen und Handlungen schafft – wegen uns und unabhängig von uns.
Die Einsicht in das »Wirken der Dinge«, wie Bruno Latour es nennt, erlaubt es uns, unsere anthropozentrische Sichtweise zu überdenken. Jedoch nicht mit dem Zweck, unsere Verantwortung zu leugnen. Stattdessen ermöglicht sie uns, zu erkennen, wie eben jene Sichtweise mit nicht-menschlichen Akteuren – einschließlich kultureller Manifestationen wie Musik – in die Herbeiführung von Veränderungen verflochten ist.
Das Konzept der »sonic agency«, das Brandon Labelle in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, befasst sich mit der Fähigkeit von Klang, zu neuen Vorstellungen von Öffentlichkeit und emanzipatorischen Praktiken beizutragen. Dies umfasst sowohl eine affektive Politik der gegenseitigen Unterstützung als auch die Erfahrungen, die wir individuell durch unsere Sinne machen.
»Sonic Fiction« ist eines der eindrücklichsten Beispiele dafür, wie Musik den von Affekten und soziokulturellen Impulsen bedingten Willen nach Erkenntnis und Veränderung gestalten und artikulieren kann. Musik, inklusive ihrer visuellen, performativen und ephemeren Elemente, die um das Hier und Jetzt des klanglichen Ereignisses kreisen, konstituiert die Kosmogonie fiktionaler Welten durch neue Narrative und Bedeutungssysteme.
Die afrofuturistische Tradition zeigt, dass Klangfiktionen eng mit Wissensproduktion, Subjektkonstitution und Materialität verwoben sind. Sie schaffen nicht einfach Fluchträume, aus denen die reale Welt vorübergehend ausgeschlossen wird. Vielmehr verleihen sie dem Verlangen nach alternativen Welten – auf konkrete und transformativ-selbstaffirmierende Weise –Ausdruck.
Das Wirken und die Handlungsmacht der Musik beschränken sich aber nicht nur auf den Bereich der Affekte und sozial determinmierte Mechanismen – sie hat auch eine materielle und physische Dimension. Als eine Form mechanischer Energie, die durch Schwingungen freigesetzt wird, oszilliert Klang durch belebte und unbelebte Körper hindurch und schafft komplexe Ökologien aus Energie und Materie, aus denen wir Lehren über »die verflochtenen Tiefen der Welt« ziehen können, wie Labelle schreibt. Klang schwingt zwischen den Intensitäten verschiedener sozialer Aggregate und unserem bloßen körperlichen Leben und offenbart so die politische Natur des Akts des Zuhörens, des tuning in und der Fürsorge gegenüber anderen und unserer Umwelt.
Entlang der kontinuierlichen Schleifen, die Musik zwischen Subjekten und Objekten schafft, lässt sich nachvollziehen, dass Musik nicht nur in ästhetischer und psychologischer Hinsicht, sondern auch in materieller Hinsicht eine höchst relationale Praxis ist, die sich von der Klangquelle durch den Raum, in dem wir uns befinden, durch unsere Körper und zurück bewegt. Das Publikum ist deshalb nicht einfach ein passiver Empfängerkreis, sondern komplementärer Akteur einer diskursiven Bewegung, die gleichermaßen von der Handlungsfähigkeit und Hörerfahrung jedes Individuums abhängt. Zuzuhören bedeutet, die Grenzen des Bekannten zu verschieben und sich auf Unbekanntes einzustellen. Dies bedeutet, sich auf eine aufmerksame und empathische Haltung einzustellen, die im Moment der Musikaufführung ermöglicht wird.
Die Verflechtung und Situiertheit von Musik wird so zu einem Merkmal, das einen wesentlichen Aspekt des musikalischen Materials selbst darstellt. Auch im Moment der Komposition und Aufführung eines Stücks erfordert es sorgfältige Überlegungen: Wer wird angesprochen, wenn wir Musik machen und spielen? Wo findet etwas statt? Gibt es Räume, die für die Übermittlung einer bestimmten Botschaft oder eines bestimmten Impulses besser geeignet sind? Ist die durch den Klang, den Raum und andere Faktoren geschaffene Atmosphäre ein wirksamer sozialer und kultureller Leiter und berücksichtigt sie die Umgebung selbst?
Die Grundlage der politischen Praxis der Fürsorge ist es, der Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen und den Unerhörten Raum zu geben und eine Stimme zu geben. Musik kann die Erfahrung der Verflechtung der Welt ermöglichen und einen inklusiven Raum schaffen, in dem gesellschaftspolitische, ökologische und ethische Botschaften der Nachhaltigkeit offen ausgesprochen werden können. Angefangen mit Protestliedern wie »Baraye« des iranischen Sängers Shervin Hajipour, einer Zusammensetzung von Tweets über die Motive und Ziele der Protestbewegung, bis hin zu Klangpraktiken mit ökologischen Inhalten gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie Musik Veränderungen auf lokaler und sogar globaler Ebene begleiten, kommentieren oder antreiben kann.
Sich Gehör zu verschaffen, bedeutet nicht zwangsläufig, dass Minderheiten, Ausgegrenzte oder ethische, politische und ökologische Fragen vertreten werden müssen, solange eine solche Vermittlung unweigerlich mit Dynamiken der Macht und Kooptation verstrickt ist (wie im Falle der Aneignung bestimmter musikalischer Praktiken durch nationalistische Politik). Die Hörbarmachung bislang unerhörter Stimmen sollte vielmehr dem klanglichen Prinzip des Dazwischen und der Verflechtung folgen, indem direkt mit den betroffenen Gruppen zusammengearbeitet und Räume geschaffen werden, in denen sie sich ohne vermit- telnde Instanz äußern können. Eine solche Politik der Repräsen- tation sollte darauf abzielen, nicht den Inhalt von Kunst und Musik zu überdenken, sondern vielmehr ihre Formen, ihre Strukturen und Dynamiken.
Die Wahl und Schaffung inklusiver Strukturen, Organisationsprinzipien und Räume, die die Handlungsfähigkeit anderer Akteure ermöglichen, würde der materiellen und psychologischen Fähigkeit von Klang entsprechen, unsere Hörpositionalität und unser Bewusstsein für die globalen Verstrickungen, in denen wir leben, neu zu orientieren. Beispiele dafür könnten etwa sein: lokalere und weniger zentralisierte Räume, weniger Enklaven, mehr partizipatorische und inklusive Dynamiken sowie verstärkt ökologisch nachhaltige Prozesse der Musikproduktion und -verbreitung.
Um mittels Musik und Kunst eine nachhaltigere Welt zu fördern, sollten sowohl Kulturschaffende wie auch -institutionen als erstes versuchen, das Prinzip in die Praxis umzusetzen, das solche Künste offenbaren. Dazu ist es notwendig, sich auf das »Wie« statt auf das »Was« zu konzentrieren und dem von Labelle sogenannten Unsichtbaren, Überhörten, Wandernden und Schwachen eine Stimme zu geben: Modalitäten, »durch die Subjekte sich gegen dominante Strukturen und Fügungen behaupten, die von Machtgefällen geprägt sind«.
Die Güte und Wahrhaftigkeit, die die innere Schönheit des Fürsten Myschkin ausmachen, haben ihn nicht vor der komplexen und zugleich banalen Grausamkeit der Welt bewahrt. Musik und Kultur allein mögen nicht die Macht haben, die sich uns heutzutage stellenden sozialen und ökologischen Herausforderungen vollständig zu überwinden. Doch die in den Modi ihrer Entfaltung und Verbreitung eingebetteten Potenziale können nachhaltige Ökologien und Verbindungen zwischen uns und unserer Umwelt, zwischen der »lebhaften Materie«, wie Jane Bennett es nennt, und den fleischlichen Gedanken ermöglichen.
Es ist wichtig, die unsichtbare, aber durchdringende Macht des Klangs anzuerkennen. Während wir diese Macht nutzen, um persönliche und relationale Veränderungen aufrechtzuerhalten, sollten wir in Erinnerung behalten, dass strukturelle Bemühungen ebenso entscheidend sind, um die aus der Musik und zusammen mit Musik entstehenden Neuorientierungen in Richtung einer widerstandsfähigen und nachhaltigen Gesellschaft zu fördern.
Letztlich liegt es an uns, diese Impulse und Anregungen in Strukturen und Aktionen zu übersetzen. Nachdem er einige Schüler*innen von Shinichi Suzuki hatte spielen hören, erwägte der katalanische Cellist und Dirigent Pablo Casals einst: »Es ist die Musik, die die Welt retten wird«. Später reflektierte Suzuki über Casals‘ Aussage: »Vielleicht wird die Musik die Welt retten. Das heißt, wenn wir für diesen Zweck arbeiten ... Es gibt Menschen, die denken, dass die Kunst um ihrer selbst willen existiert, aber das glaube ich nicht... Ich denke, dass alle Menschen, die Kunst lieben, diejenigen, die Kunst lehren, und ihr alle, mit der Verpflichtung lodern sollten, die Welt zu retten.«