Der Titel des Stücks stammt von einem von Katherine McKittrick herausgegebenen Sammelband über das Werk von Sylvia Wynter. Wie ist deine Beziehung zu Wynter?
Wynter hat eine faszinierende Biografie. Sie ist Romanautorin, Dramatikerin, Kritikerin, Essayistin und Philosophin. In ihrem Werk vereint sie Erkenntnisse aus den Geistes-, Kunst- und Naturwissenschaften sowie dem antikolonialen Widerstand, um gegen das zu intervenieren, was sie als »overrepresentation of Man« bezeichnet. Ihr Kerngedanke des soziogenen Prinzips geht auf Frantz Fanons Konzept der Soziogenese zurück. Dabei handelt es sich um die Entwicklung eines sozialen Phänomens, also etwas, das sozial produziert wird und nicht ontologisch gegeben ist. Wynters Ideen zum Konzept des soziogenen Prinzips sind auch heute noch relevant.
Soziogenese ist eng mit Identitätskategorien verknüpft und damit, wie wir bestimmte Menschengruppen oder sogar das Menschsein als solches definieren.
Ja. Wenn diese Themen ontologisch angegangen werden, bedeutet das, dass sie als unveränderlich oder feststehend dargestellt werden. Soziogenese verändert sich jedoch ständig, wann immer wir uns verändern oder migrieren. Zum Beispiel hat die westliche klassische Musik im Laufe der Zeit auf nicht-westliche Musik zurückgegriffen, um sich hinsichtlich Harmonie und Rhythmus weiterzuentwickeln. Das wird nicht immer anerkannt. An der Idee der Soziogenese gefällt mir, dass sie einen Bereich gelebter Erfahrungen eröffnet, der ständig in Bewegung ist – die Körperlichkeit der Zeit. Wir alle sind unterschiedlich, und die Erfahrung davon kann von all denen gemacht werden, die sich dafür offen zeigen. Das gilt auch für die Pandemie, deren Beginn mit der Entwicklung des Projekt zusammenfiel: Als die Zeit »stehen blieb«, erlebten wir eine seismische Verschiebung in der Art und Weise, wie die Menschen ihre Umgebung bewohnten. Gleichzeitig wurden wir Zeug*innen einer Beschleunigung sozialer Proteste, die sich gegen bestehende Ungerechtigkeiten richteten. Die Welt reagierte sensibel auf ihre Umgebung, sowohl auf menschlicher als auch auf ökologischer Ebene. Diese Ereignisse waren nicht ohne Weiteres zu ignorieren, und das entfachte eine bestimmte Art von Energie. Das war eine gemeinsame gelebte Erfahrung.
Wie hängt das mit deiner Arbeit zusammen?
Meine Beziehung zu Wynters Werk verändert sich laufend und ist kompliziert, weil ihre Ideen eine sorgfältige Betrachtung und Reflexion erfordern. Ich habe Katherine McKittricks Sammelband »On Being Human as Praxis« wieder und wieder gelesen. Dann und wann leuchtete ein Verständnisfunken auf. Wie sich meine Lesart von Wynters Philosophie auf meine Musik auswirkt, zeigt sich in meiner Praxis, die sehr unterschiedliche Bereiche umfasst. So stellt Wynter beispielsweise die klassischen humanistischen Ideen als ein Konstrukt in Frage, das auf einer kolonialistischen Ideologie beruht. Wer ist menschlicher als andere? Was macht überhaupt ein menschliches Wesen aus? Wie wird das bestimmt und von wem? Ich wollte einen Weg finden, diese Fragen zu beantworten. Das Menschsein ist nichts Endgültiges. Wir arbeiten immer daran, was das überhaupt bedeutet: Mensch zu sein.
Du hast geschrieben, das Stück setze sich mit dem Konflikt zwischen dem westlichen Konzept des Menschen als »Man« entgegen dem Mensch als »Human« auseinander und wie dieser Konflikt wesentlich für Strukturen der Ungerechtigkeit in aller Welt sei. Was bedeutet das auf künstlerischer Ebene?
Diesen Konflikt aufzuzeigen, konnte nur auf demokratische Weise geschehen. Meine Hoffnung war, dass Wynters Werk die Komponist*innen dazu inspirieren würde, sich damit auseinanderzusetzen. Ihre Schriften können sehr herausfordernd sein. Sie haben das aber gemeistert und das gilt auch in Anbetracht der anderen Elemente, die die fünf verschiedenen Klangwelten miteinander verbinden. Dass jedes der zehnminütigen Stücke durch Improvisation und Bewegung verschmolzen wurde, gehört zur Praxis oder der Bemühung, das gesamte Projekt zum Erfolg zu bringen. Jedes Werk ist für Klarinette, Trompete, Schlagzeug, Violine und Kontrabass sowie Bewegung geschrieben und eines mit Elektronik. Das ist recht ungewöhnlich. Es war jedoch sehr wichtig, weil es mit der Idee zusammenhängt, dass nichts wirklich feststeht, sondern sich immer in Bewegung befindet – dass sich alles, dass wir alle uns ständig verändern. Das Tolle an den Komponist*innen ist, dass sie mit ihren Stücken nicht zimperlich sind. Es war ihnen wichtiger, dass wir – also ich, das Ensemble MAM. Manufaktur für aktuelle Musik sowie natürlich Choreograf Dam Van Huynh und seine Tänzer*innen – die Essenz und Ideen ihrer Werke zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne macht es einen großen Unterschied, dass die Stücke von Komponist*innen geschrieben wurden, die selbst Performer*innen sind. Das steht auch im Zusammenhang mit meinem Projekt, den Kult um den »genialen« Komponisten zu zerlegen.
Dieser Kult stellt natürlich ein perfektes Beispiel dafür dar, wie bestimmten gesellschaftlich produzierten Kategorien ein besonderer Wert zugeschrieben wird.
Ganz genau! Ich habe sehr bewusst versucht, dieses Projekt zu einem sehr kollaborativen Projekt zu machen, an dem sehr unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen mit sehr unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen beteiligt sind. Jede*r von uns hat eine gleichberechtigte Plattform, und das stellt für mich die Stärke der Arbeit dar.
Wie hast du die Performance gemeinsam mit Dam Van Huynh konzipiert?
Ursprünglich hatten wir eine viel körperbetontere, kontaktorientiertere Aufführung geplant. Wir hatten vor, uns dafür vorab mit dem Ensemble zu treffen. Wer in der eigenen Praxis nicht an Bewegung gewöhnt ist, hat mit dem Tanzen Schwierigkeiten. Du musst lernen, dich zu bewegen, dich zu entspannen und darauf zu vertrauen, dass du das kannst. Das geht nicht von heute auf morgen. Dann aber kam die Pandemie und wir mussten alles überdenken. Insgesamt hatten wir fünf Tage Zeit, um das Stück auf die Beine zu stellen. Das ist nicht gerade viel für ein 50-minütiges Stück! (lacht) Und dann wurden die Donaueschinger Musik tage komplett abgesagt. Wenn ich mir die Aufnahme anschaue, bin ich wirklich begeistert, wie selbstbewusst sich die Instrumentalist*innen bewegen. Ich freue mich sehr, dass wir das Stück noch einmal aufführen können, diesmal vor Publikum.
Werdet ihr das Publikum in die Performance einbeziehen?
Alle musikalischen Erlebnisse sind immersiv und beziehen das Publikum in irgendeiner Weise mit ein, also ja. Aber ich kann nicht sagen, wie genau das laufen wird. Die Werke sind sehr unterschiedlich, es ist also definitiv kein normales Konzert. Wer das erwartet, sollte sich lieber ein anderes Ticket kaufen! (lacht) »Normal« mache ich nicht!
Und warum auch, es ist ja ein Stück über Veränderung. Wie hat sich dein eigenes Verhältnis dazu verändert?
Ich denke, es hat sich vertieft. Ich hatte ja mehr Zeit, jedes Werk besser zu verstehen. Ich singe die Stücke sogar besser als vor zwei Jahren! Im Jahr 2020 war es wirklich schwer, sie zu lernen, weil ich mich ständig abgelenkt und unruhig fühlte. Es sind auch andere Dinge passiert, die sich auf die Art und Weise auswirken, wie ich die Stücke interpretiere und zum Ausdruck bringe. Ich bin wirklich gespannt darauf, das alles mit der Gruppe zu diskutieren. Wir haben uns ja alle verändert und sind gewachsen.