Elaine Mitchener über »On Being Human as Praxis«

field notes #31

13. März 2023 | Kristoffer Cornils

Elaine Mitchener

»On Being Human as Praxis« wurde von Elaine Mitchener konzipiert. Dafür lud die Vokalkünstlerin die Komponist*innen Jason Yarde, Matana Roberts, Laure M. Hiendl, Tansy Davies und George E. Lewis ein, sich mit dem Werk der jamaikanischen Feministin und Kulturtheoretikerin Sylvia Wynter auseinanderzusetzen. Das Stück wurde ursprünglich von den Donaueschinger Musiktagen in Auftrag gegeben und sollte im Jahr 2020 dort uraufgeführt werden. Die Pandemie machte dem zwar einen Strich durch die Rechnung, doch die improvisationserfahrene Künstlerin und ihr Team – das Ensemble MAM. Manufaktur für aktuelle Musik und der Choreograf Dam Van Huynh sowie Tänzer*innen – disponierten um und nahmen das Stück mit nur wenigen Tagen Vorlaufzeit auf Video auf. Die Aufführung bei der diesjährigen MaerzMusik am 19. März kann dementsprechend als eine Art Uraufführung angesehen werden. Oder aber als eine erneute Iteration von Kompositionen, die sich dem Prinzip des Wandels verschrieben haben. Im Interview mit field notes-Redakteur Kristoffer Cornils sprach Mitchener darüber, wie sich dieses Stück über Veränderung im Laufe der Zeit selbst verändert hat.

Der Titel des Stücks stammt von einem von Katherine McKittrick herausgegebenen Sammelband über das Werk von Sylvia Wynter. Wie ist deine Beziehung zu Wynter?

Wynter hat eine faszinierende Biografie. Sie ist Romanautorin, Dramatikerin, Kritikerin, Essayistin und Philosophin. In ihrem Werk vereint sie Erkenntnisse aus den Geistes-, Kunst- und Naturwissenschaften sowie dem antikolonialen Widerstand, um gegen das zu intervenieren, was sie als »overrepresentation of Man« bezeichnet. Ihr Kerngedanke des soziogenen Prinzips geht auf Frantz Fanons Konzept der Soziogenese zurück. Dabei handelt es sich um die Entwicklung eines sozialen Phänomens, also etwas, das sozial produziert wird und nicht ontologisch gegeben ist. Wynters Ideen zum Konzept des soziogenen Prinzips sind auch heute noch relevant.

Soziogenese ist eng mit Identitätskategorien verknüpft und damit, wie wir bestimmte Menschengruppen oder sogar das Menschsein als solches definieren.

Ja. Wenn diese Themen ontologisch angegangen werden, bedeutet das, dass sie als unveränderlich oder feststehend dargestellt werden. Soziogenese verändert sich jedoch ständig, wann immer wir uns verändern oder migrieren. Zum Beispiel hat die westliche klassische Musik im Laufe der Zeit auf nicht-westliche Musik zurückgegriffen, um sich hinsichtlich Harmonie und Rhythmus weiterzuentwickeln. Das wird nicht immer anerkannt. An der Idee der Soziogenese gefällt mir, dass sie einen Bereich gelebter Erfahrungen eröffnet, der ständig in Bewegung ist – die Körperlichkeit der Zeit. Wir alle sind unterschiedlich, und die Erfahrung davon kann von all denen gemacht werden, die sich dafür offen zeigen. Das gilt auch für die Pandemie, deren Beginn mit der Entwicklung des Projekt zusammenfiel: Als die Zeit »stehen blieb«, erlebten wir eine seismische Verschiebung in der Art und Weise, wie die Menschen ihre Umgebung bewohnten. Gleichzeitig wurden wir Zeug*innen einer Beschleunigung sozialer Proteste, die sich gegen bestehende Ungerechtigkeiten richteten. Die Welt reagierte sensibel auf ihre Umgebung, sowohl auf menschlicher als auch auf ökologischer Ebene. Diese Ereignisse waren nicht ohne Weiteres zu ignorieren, und das entfachte eine bestimmte Art von Energie. Das war eine gemeinsame gelebte Erfahrung.

Wie hängt das mit deiner Arbeit zusammen?

Meine Beziehung zu Wynters Werk verändert sich laufend und ist kompliziert, weil ihre Ideen eine sorgfältige Betrachtung und Reflexion erfordern. Ich habe Katherine McKittricks Sammelband »On Being Human as Praxis« wieder und wieder gelesen. Dann und wann leuchtete ein Verständnisfunken auf. Wie sich meine Lesart von Wynters Philosophie auf meine Musik auswirkt, zeigt sich in meiner Praxis, die sehr unterschiedliche Bereiche umfasst. So stellt Wynter beispielsweise die klassischen humanistischen Ideen als ein Konstrukt in Frage, das auf einer kolonialistischen Ideologie beruht. Wer ist menschlicher als andere? Was macht überhaupt ein menschliches Wesen aus? Wie wird das bestimmt und von wem? Ich wollte einen Weg finden, diese Fragen zu beantworten. Das Menschsein ist nichts Endgültiges. Wir arbeiten immer daran, was das überhaupt bedeutet: Mensch zu sein.

Du hast geschrieben, das Stück setze sich mit dem Konflikt zwischen dem westlichen Konzept des Menschen als »Man« entgegen dem Mensch als »Human« auseinander und wie dieser Konflikt wesentlich für Strukturen der Ungerechtigkeit in aller Welt sei. Was bedeutet das auf künstlerischer Ebene?

Diesen Konflikt aufzuzeigen, konnte nur auf demokratische Weise geschehen. Meine Hoffnung war, dass Wynters Werk die Komponist*innen dazu inspirieren würde, sich damit auseinanderzusetzen. Ihre Schriften können sehr herausfordernd sein. Sie haben das aber gemeistert und das gilt auch in Anbetracht der anderen Elemente, die die fünf verschiedenen Klangwelten miteinander verbinden. Dass jedes der zehnminütigen Stücke durch Improvisation und Bewegung verschmolzen wurde, gehört zur Praxis oder der Bemühung, das gesamte Projekt zum Erfolg zu bringen. Jedes Werk ist für Klarinette, Trompete, Schlagzeug, Violine und Kontrabass sowie Bewegung geschrieben und eines mit Elektronik. Das ist recht ungewöhnlich. Es war jedoch sehr wichtig, weil es mit der Idee zusammenhängt, dass nichts wirklich feststeht, sondern sich immer in Bewegung befindet – dass sich alles, dass wir alle uns ständig verändern. Das Tolle an den Komponist*innen ist, dass sie mit ihren Stücken nicht zimperlich sind. Es war ihnen wichtiger, dass wir – also ich, das Ensemble MAM. Manufaktur für aktuelle Musik sowie natürlich Choreograf Dam Van Huynh und seine Tänzer*innen – die Essenz und Ideen ihrer Werke zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne macht es einen großen Unterschied, dass die Stücke von Komponist*innen geschrieben wurden, die selbst Performer*innen sind. Das steht auch im Zusammenhang mit meinem Projekt, den Kult um den »genialen« Komponisten zu zerlegen.

Dieser Kult stellt natürlich ein perfektes Beispiel dafür dar, wie bestimmten gesellschaftlich produzierten Kategorien ein besonderer Wert zugeschrieben wird.

Ganz genau! Ich habe sehr bewusst versucht, dieses Projekt zu einem sehr kollaborativen Projekt zu machen, an dem sehr unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen mit sehr unterschiedlichen menschlichen Erfahrungen beteiligt sind. Jede*r von uns hat eine gleichberechtigte Plattform, und das stellt für mich die Stärke der Arbeit dar.

Wie hast du die Performance gemeinsam mit Dam Van Huynh konzipiert?

Ursprünglich hatten wir eine viel körperbetontere, kontaktorientiertere Aufführung geplant. Wir hatten vor, uns dafür vorab mit dem Ensemble zu treffen. Wer in der eigenen Praxis nicht an Bewegung gewöhnt ist, hat mit dem Tanzen Schwierigkeiten. Du musst lernen, dich zu bewegen, dich zu entspannen und darauf zu vertrauen, dass du das kannst. Das geht nicht von heute auf morgen. Dann aber kam die Pandemie und wir mussten alles überdenken. Insgesamt hatten wir fünf Tage Zeit, um das Stück auf die Beine zu stellen. Das ist nicht gerade viel für ein 50-minütiges Stück! (lacht) Und dann wurden die Donaueschinger Musik tage komplett abgesagt. Wenn ich mir die Aufnahme anschaue, bin ich wirklich begeistert, wie selbstbewusst sich die Instrumentalist*innen bewegen. Ich freue mich sehr, dass wir das Stück noch einmal aufführen können, diesmal vor Publikum.

Werdet ihr das Publikum in die Performance einbeziehen?

Alle musikalischen Erlebnisse sind immersiv und beziehen das Publikum in irgendeiner Weise mit ein, also ja. Aber ich kann nicht sagen, wie genau das laufen wird. Die Werke sind sehr unterschiedlich, es ist also definitiv kein normales Konzert. Wer das erwartet, sollte sich lieber ein anderes Ticket kaufen! (lacht) »Normal« mache ich nicht!

Und warum auch, es ist ja ein Stück über Veränderung. Wie hat sich dein eigenes Verhältnis dazu verändert?

Ich denke, es hat sich vertieft. Ich hatte ja mehr Zeit, jedes Werk besser zu verstehen. Ich singe die Stücke sogar besser als vor zwei Jahren! Im Jahr 2020 war es wirklich schwer, sie zu lernen, weil ich mich ständig abgelenkt und unruhig fühlte. Es sind auch andere Dinge passiert, die sich auf die Art und Weise auswirken, wie ich die Stücke interpretiere und zum Ausdruck bringe. Ich bin wirklich gespannt darauf, das alles mit der Gruppe zu diskutieren. Wir haben uns ja alle verändert und sind gewachsen.


Ich habe mich gefragt, welche emotionalen Auswirkungen die Aufführung dieses Stückes auf dich hat. Es scheint sehr herausfordernd, wenn nicht sogar anstrengend zu sein, ob nun geistig oder körperlich.

(lacht) Ich würde nicht sagen, dass mir dieses Stück übermenschliche Anstrengungen abfordert. Aber es erfordert ein Maß an Konzentration, das ich damals nur schwer aufbringen konnte. Bei den Donaueschinger Musiktagen waren wir mit einer Situation konfrontiert, in der wir auf eine sehr ungewöhnliche Weise agieren mussten. Das hat uns näher zusammengebracht. Als man uns mitteilte, dass das Festival abgesagt wurde, fühlte ich ein sehr körperliches Gefühl der Orientierungslosigkeit. Ich war erschüttert – wir alle waren das! Natürlich aber hatte ich die Musik und die Bewegungen in meinem Kopf gespeichert und musste das rauslassen. Und das ist es, was die Aufführung für mich bedeutet: Es geht darum, sich mitzuteilen und loszulassen, was es zu einer sehr kathartischen Angelegenheit macht. Wir freuen uns darauf, uns wieder mit den Werken und miteinander zu beschäftigen sowie natürlich die tiefergehenden politischen und sozialen Aspekte der einzelnen Werke mit Freude zu vermitteln.

Damit sind wir wieder beim Thema der Soziogenese und der Rolle der Stimme angelangt. Einerseits wird die Stimme gemeinhin als das »menschlichste« aller Instrumente wahrgenommen. Sie ist aber auch etwas, anhand dessen Menschen in verschiedene soziale Kategorien eingeteilt werden. Wie hat sich das auf dein Stück ausgewirkt, dessen einzelne Teile im übertragenen Sinne die künstlerischen »Stimmen« von fünf anderen Menschen repräsentieren?

Ich habe das große Glück, dass alle der Komponist*innen meine Stimme und ihre Möglichkeiten sehr gut kennen. Die Stücke wurden mit den vielen verschiedenen Arten im Hinterkopf geschrieben, in denen ich sie einsetzen kann. Keines der Stücke schränkt mich ein. Ich kann die musikalischen Welten erkunden, die die Komponist*innen geschaffen haben. Sie erlauben ebenso den Instrumentalist*innen, als Vokalist*innen aufzutreten – nicht unbedingt mit ihrer Stimme, sondern mit ihrem Instrument, so wie meine Stimme auch instrumental eingesetzt wird. Ich sage gerne, dass Wynters Texte mein Geschenk an dieKomponist*innen sind. Umgekehrt lässt sich sagen, dass ihre Stücke ein Geschenk an mich darstellen. Wir Interpret*innen werden herausgefordert, über die Notation hinauszugehen. Der Job besteht darin, die Partitur zu befreien und leben zu lassen.

Neben der Performance von »On Being Human as Praxis« wird Elaine Mitchener am 23. März auch »Songs for Captured Voices«, komponiert von Laure M. Hiendl, bei MaerzMusik aufführen. In absehbarer Zeit wird sie außerdem für ein gemeinsames Konzert mit Audrey Chens und Henrik Munkeby Nørstebøs Projekt Beam Splitter sowie Mariam Rezaei nach Berlin zurückkehren. Michener ist derzeit Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD 2022 und Artist-in-Focus beim radialsystem im Jahr 2023.

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