»Alles, was wir sind, ist die Vergangenheit«

Jessie Cox über multidimensionale Räume, Kreolität, Opazität und Pop

15. August 2023 | Elisa Erkelenz

Jessie Cox by Tilly Clifford
©Tilly Clifford

Ob man Jessie Cox in New York oder Australien erreicht: Im Zoom-Hintergrund kreisen die gleichen Sterne und Planeten. Der Kosmos ist für Cox schöpferischer Bezugsraum, ähnlich wie bei dem Begründer des Afrofuturismus Sun Ra, der ihn inspiriert und mit dessen Arkestra er in New York gearbeitet hat. Mit Cox über Musik zu sprechen, ist wie eine intellektuelle Weltraumreise, und seine Musik selbst eine Einladung ins Unbekannte. Am 30. August ist er im Rahmen von Outernational mit seinem neuen Werk »Cosmic Migrations« im Berliner radialsystem zu erleben. Elisa Erkelenz sprach mit ihm über die Öffnung neuer Welten, die alten Probleme in dieser und das Recht darauf, nicht durchleuchtet zu werden.

Woran arbeitest du gerade? 

Es ist eine ganz spannende Zeit, man könnte es auch einen Wendepunkt nennen. Ich habe mich in den letzten Jahren intensiv mit dem Klang von Becken auseinandergesetzt und vor allem mit der Idee vom Klang eines Raumes. Zum Beispiel habe ich 2020 eine Sendung auf YouTube gemacht, Space Travel From Home, wo ich wöchentlich etwas eingespielt habe. Ich hatte einen kleinen Greenscreen im Hintergrund und ging zu verschiedenen Planeten und Sternen. Jeder galaktische Körper hatte einen anderen Raumklang. Diese Räume erforschte ich dann in der oder als Musik. Vor Kurzem habe ich ein Interview mit Jack Whitten gelesen – ein unglaublicher afroamerikanischer Künstler, der für die Verwendung von Mosaiken in Gemälden bekannt wurde. Es sind also Gemälde, aber man könnte sie auch als Skulpturen betrachten. Er denkt viel über multidimensionale Räume nach. Es geht auch mir um das »slipping into another world«, wie es Henry Threadgill beschreibt, dessen Buch ich gerade gelesen habe. Neue Welten zu öffnen, künstlerisch, aber auch politisch.

Hast du dafür ein Beispiel, wie du multidimensionale Räume in deinen Kompositionen schaffst?

Wenn man zum Beispiel ein Becken hat und es sich als einen Raum vorstellt, gibt es da eine Note, die im Vordergrund steht und dann hat man noch so etwas wie einen Schatten dahinter. Man kann die Noten ändern und Linien ziehen, aber man kann auch den Raum verändern, den Schatten sozusagen. Dadurch kann man multiple Räume gleichzeitig erschaffen. Man kann zum Beispiel zwei Becken haben oder zwei verschiedene Stücke von Notenlinien anspielen, ohne den ganzen Rahmen zu spielen. Damit beschäftige ich mich gerade. Natürlich auch in Verbindung mit Fragen des Raumes, die über die Idee von Musik hinausgehen. Also Raum als die Umwelt, Raum als unser Zusammenleben und der Raum als das, was wir sind.


Inwiefern hängen diese Fragen für dich auch mit Theorien von Blackness zusammen, auf die du dich ja in deinen Werken und Texten öfter beziehst?

Sehr eng. Es ist interessant, dass unsere moderne Idee von einer Relation zum Raum absolut mit der Frage verwoben ist, was ein Mensch sein kann und was wir sind und nicht sind. Ein gutes Beispiel ist: Seit Beginn der Plantagen und der mit ihnen verbundenen Sklaverei gab es die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die Land produktiv machen, es kultivieren können. Die Plantage war die Geburt der Monokultur, die dem »wilden« oder »untauglichen« Land gegenüberstand. Auf diesem wilden Land wiederum haben viele Sklaven und indigene Personen ihre Freiheit praktiziert. »Maroonage« ist ein Wort, um diese Gesellschaften zu beschreiben. Blackness bespricht also diese Verweigerung zu begrenzen, was Leben sein kann. Blackness geht über jede Begrenzung hinaus, es ist eine Aufforderung, immer weiter zu fragen und zu denken, mit dem Unbekannten, dem Ungedachten zu bleiben. Es ist wie ein hack, um Tony Cokes zu zitieren, der in einer Welt, die ständig versucht, alles unter Kontrolle zu bekommen, alles produktiv zu machen, widerspricht. Blackness kann nicht auf Diskurse der Monokultur oder der Biodiversität als dessen Derivat reduziert werden. Beides basiert auf einer anti-Schwarzen-Welt. Black Lives Matter, sowie Schwarzsein, ist auch eine Kritik an den Spielregeln dieser Welt. Es geht darum, die Definitionen von Leben und Existenz, die zur Zerstörung führen, zu hinterfragen.

Wie stehen für dich Begriffe wie Black und Blackness im Verhältnis zu Diversität, als einem Begriff, der ja hierzulande als Begriff inzwischen eher verbreitet ist?

Das Problem mit Diversität als Begriff ist, dass er sehr leicht dazu verwendet werden kann, Anti-Blackness zu verdrängen. Noémi Michels wissenschafliche Arbeit, zum Beispiel über das »Schwarze-Schaf-Poster« der SVP aus dem Jahr 2007, zeigt das ganz klar. Das Poster zeigt drei weiße Schafe, die ein schwarzes Schaf aus der Schweiz stoßen. Als Gegenkritik wurde ein Poster mit 23 unterschiedlich aussehenden Schafen geschaffen, um die Vielfältigkeit, oder Diversität, der Schweiz zu zelebrieren. Die Rhetorik der scheinbar schon bestehenden Diversität, da die Schweiz ja von verschiedenen Sprachen und Kantonen geschaffen wurde, spielte der Rhetorik der SVP in die Hände, dass die Farbe des Schafes nicht wichtig sei. Das heißt also, dass ein erster Schritt die schwarze Farbe des Schafes als Rassifizierung sieht. Deswegen ist die Kritik dieses Posters notwendig. In einem zweiten Schritt jedoch wird nicht nur die Rassifizierung sondern eben auch Blackness ausgelöscht und als nicht gültig bezeichnet. Wie Claire Jean Kim erläutert: Die Loslösung vom Problem, das Affirmative Action bekämpfen sollte — nämlich Anti-Blackness — wurde durch colorblind-Diskurse wie eben Diversität ermöglicht. Und erlaubte die erneute Verneinung von Affirmative Action. 

Gleichzeitig höre ich in Diversität aber auch einen Untergrund — der Kampf gegen Anti-Blackness in einer Welt, in der man dies nicht einmal benennen kann. Im Deutschen haben wir nicht einmal ein Wort für Anti-Blackness. Und die Diskurse über Anti-Blackness kommen erst langsam in die größere Aufmerksamkeit (natürlich weil Anti-Blackness strukturell ist). In der Abwesenheit von Diskursen und Wörtern, um etwas zu thematisieren, muss man über die Sprache, gar das Verstehen selbst gehen. Das ist, was die Black Studies schon immer besprochen haben. Das Wort »afro-deutsch« kann nicht von den Schwarzen Frauen losgelöst werden, die sich organisierten, und durch ihre Zuwendung zu Schwarzen Menschen in Deutschland und deren Geschichten dieses Wort niederschrieben, und gleichzeitig eine Menge von Diskursen und strukturellen Einbrüchen in Gang brachten. Blackness bespricht also die radikale Verweigerung einer antischwarzen Welt durch die Affirmation von Schwarzsein/Black Lives.

Dein Lehrer George E. Lewis hat bei VAN Outernational eine »Kreolisierung« der zeitgenössischen Musikszene gefordert. Wie stehst du zum Begriff der Kreolität, der maßgeblich von Édouard Glissant geprägt wurde?

Kreolität ist für mich sehr wichtig, weil es eine Art des Widerstands zum Diskurs von  Multikulturalismus, Diversität und Hybridität ist. Kreolität muss man als ein Konzept verstehen, das untrennbar von Blackness ist. Gleichzeitig muss das Konzept problematisiert werden, da es auch in colorblind-Diskurse gezogen werden kann. Glissants Theorisierung von creolité jedoch braucht das Unvorhersehbare und Unbekannte, was für ihn in der Situation, in der sich Schwarze in der Zeit der Sklaverei befanden, exemplifiziert ist. Auch Glissant schreibt über Maroonage und creole gardens. Diese kleinen Gärten waren manchmal Teil der Plantagen, aber auch in schwieriger zu bewirtschaftenden Gebieten zu finden, die die Maroons für sich gewinnen konnten. Da wurde auf wenig Platz für die Sklaven und deren eigenen Unterhalt viel unterschiedliches – heute würde man sagen biodiverses – Essen angepflanzt. Für Glissant ist das eine fundamentale Metapher für sein Konzept von Kreolität. Da ist ein Wissen, das wir wiedererkennen müssen, um überhaupt auf diesem Planeten leben zu können. Und zwar ein Leben, das uns wieder beinhaltet. Auch Glissants Konzept der Opazität ist mir unglaublich wichtig.

Kannst du kurz beschreiben, was Opazität bedeutet?

Glissant hat gesagt, dass jeder Mensch ein Recht auf Opazität hat. Opazität steht der Transparenz und Kontrolle gegenüber, er meint also, dass wir ein Recht haben, nicht durchleuchtet und dadurch kategorisiert und kolonisiert zu werden. In der Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts wurden Transparenz und Kontrolle zum Prinzip des Nationalstaats und somit auch zur Definition eines Bürgers. Kurzum: Was nicht bekannt ist, darf nicht existieren. Das, was wild ist, darf erobert werden. Wie das »wilde Afrika« oder der »wilde Westen«. Das Beharren auf Opazität als Grundrecht setzt sich dem entgegen.

Findest du die Opazität auch als Konzept für deine Kompositionen fruchtbar? Zum Beispiel in dem Sinne, dass man weniger essentialistisch kategorisiert und sich auch von der Idee verabschiedet »alles, was ich nicht sehe oder durchschaue, ist nichts wert«?

Ja! Das ist ein sehr schöner Ansatz. Für mich als Komponist hängt Opazität auch gar nicht nur mit dem Schaffen, sondern auch mit dem Hören von Musik zusammen und der Hörhaltung, die ich einnehme. Die verbreitete Vorstellung ist ja, dass man Musik auf zwei Arten hören kann: im Stream oder im Konzert. Oft weiß man dann, welche Musik man erwarten kann. Für mich hat das eigentlich sehr wenig mit Musik zu tun – die eigenen Erwartungen zu bestätigen. Vielleicht sollten wir weniger erklären, vielleicht ist es die Aufgabe der Zuhörenden, eine Beziehung herzustellen zur Musik? Musik ist ein Netz von Beziehungen. Dass wir hören und Kategorien aufbauen und wieder verlieren. Dass wir immer neue Worte finden müssen, wenn wir sprechen. Vieles darf sich neu sortieren, wenn wir hören. Das ist das Schöne!


Du hast auch intensiv mit dem Sun Ra Arkestra gearbeitet. Sun Ra gilt als Vorreiter des Afrofuturismus, der inzwischen selbst schon wieder auf eine längere Geschichte zurückblickt. Wie beziehst du dich darauf, sind die Gedanken für dich noch aktuell? 

Die Ideen des Afrofuturismus haben in der Tat schon eine eigene Geschichte. Alle, die Sun Ra kannten, sagen, dass er sie schon fürs späte 21. Jahrhundert gedacht hat. Und ich finde, das stimmt noch immer auf viele Weisen – wie er über Space und Raum im Allgemeinen gedacht hat. Wie er eine Metapher verwendet hat, den Outerspace, der aber gleichzeitig unseren Planeten und uns selbst bespricht. Für mich ist das auch eine Studie oder eine pädagogische Mitteilung: Darüber, wie wir mit der Vergangenheit umgehen und dadurch auch mit der Zukunft, über das Denken von Zeit, Raum und Gegenwart.

Neulich habe ich einen Kurzfilm von Louis Henderson gesehen, in dem es um Klimawandel und Kolonialismus geht. Er spricht über ein Meer mit Korallen, über Forscher, die mit toten Korallen arbeiten und Hinweise auf mögliche Mutationen suchen. Diese wiederum können Hinweise geben, wie mehrere Spezies als eine Koralle zusammenleben können, in diesem toten Meer. Ein wunderbares Werk. Was mich eben sehr beeindruckt hat, ist die komplett andere Relation zu Vergangenheit und ihrem Schrecken – ein Meer, in dem auch der Tod lebt. Das Überdenken der Vergangenheit kann eine neue Zukunft und neue Wege oder Ideen für unser Verhalten mit sich bringen.

Das erinnert mich an Johannes Schöllhorn, der vor Kurzem einen Essayband über die Verwebung der Kolonialgeschichte mit der Musikgeschichte geschrieben hat: »Karte, Uhr und Partitur«. Er schreibt: »Überall in der Koralle kann Mensch auf Vergangenheit (in Form abgestorbener Zweige) und auf Zukunft (in Form ahnbarer Weiterwüchse) treffen. Ich schlage die Koralle als Karte fürs Weitergehen vor. Die Koralle ist vielseitig experimentell.« 

Alles, was wir sind, ist die Vergangenheit. Wir, heute, sind die Vergangenheit. Es gibt keine Vergangenheit außer uns. Wenn jetzt plötzlich der ganze Planet einfach verschwindet, dann wäre die Vergangenheit weg. Es würde keine »Timeline« mehr geben. Jedes Molekül wäre weg. Und ja, das ist vielleicht ein bisschen Sci-Fi, aber eigentlich auch nicht so sehr. So denken wir ja sowieso in der Physik und in den Neurowissenschaften. Hendersons Koralle, die die lineare Abtrennung von Zeit und Raum verweigert, ist ein tolles Bild. Ein bisschen wie Schrödingers Katze, also in der Quantenphysik – jeder Moment ist im Ungewissen verankert. Jeder Raum ist multidimensional, nicht selbstgenügsam als Moment oder Ton.

Nochmal zum Afrofuturismus, gerade ist ja das neue Album von Janelle Monaé erschienen. Hörst du Pop?

Ich muss sagen: Mit Pop-Musik hinke ich immer ein bisschen hinterher. Ich höre etwa gleich viel Pop, wie ich auch jede andere Komponist*in höre. (lacht) Also eher hier und da mal ein Stück. Es gibt für mich keinen Unterschied, ob etwas jetzt populär ist oder nicht. Ich habe kein Spotify, und wenn ich einen Namen finde, schaue ich mir an, was sie gemacht haben, und dann schaue ich, wer mit wem zusammengearbeitet hat, und dann wird es interessant. Denn oft sind es eigentlich die gleichen Leute, die ich aus der zeitgenössischen Musik oder aus dem Jazz kenne. Ich glaube, es ist wichtig zu begreifen, dass diese Kategorien in unserer Zeit komplett andere Dinge bedeuten – vor allem für Musiker*innen, die genreübergreifend arbeiten. Es sind ganz wenige Leute, die irgendwo einen festen Job haben. Die meisten arbeiten mal dort und mal dort. Doch das Pop-Business ist ein komplett anderes! Es ist sehr wichtig, dass wir diese Kunstmusikräume haben und dort allen möglichen Leuten sowie diversen Stilen und Ästhetiken Chancen geben. Denn das Experimentelle werden Labels nie fördern, das passt nicht mit dem heutigen Business-Modell zusammen. Das ist die Wahrheit. Genau wie in den Wissenschaften… Wenn eine Uni Geld hat, können auch mehr experimentelle Sachen ausprobiert werden, die nicht direkt rentabel sind. Das Gleiche brauchen wir in der Kunst, sonst haben wir Monokulturen.

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