Schwerpunkte des Monats der zeitgenössischen Musik 2022

Monat der Zeitgenössischen Musik #6

A Trio
©Tony Elieh

Ein Gradmesser für aktuelle Tendenzen

Da der Monat der zeitgenössischen Musik nicht von einer zentralen Stelle kuratiert wird, sondern direkt aus der Freien Szene heraus entsteht, ist er mit seinen rund 150 Veranstaltung an 65 Bühnen in nur vier Wochen verlässlicher Gradmesser für aktuelle Tendenzen der Szene. Zur besseren Orientierung haben wir für euch rote Fäden des Musizierens und Komponierens ausgemacht, die sich durch das Programm ziehen:

Die diesjährige sechste Ausgabe ist geprägt von musikalischen und intermedialen Grenzgängern und einer vertieften Beschäftigung mit neuen Ansätzen transtraditioneller Musik. Deutlich spürbar wird auch der wachsende Drang der Musik mit sozialen und politischen Themen Position zu beziehen. Viele der Projekte beleuchten das Verhältnis zwischen Kunst und Aktivismus, Klang und Ökologie sowie Aspekte des Zusammenkommens aus unterschiedlichen Perspektiven. Aktuelle komponierte Kammer- und Orgelmusik mit zahlreichen Uraufführungen und Berliner Spezialitäten wie der Klangkunst, der Echtzeitmusik und Improvisation fehlen natürlich auch in diesem Septemberprogramm nicht. Dazu gesellen sich gleich zwei Festivals, die sich elektroakustischer Musik verschrieben haben. Partizipative Formate und ein Angebot für Kinder und Jugendliche laden zum Mitmachen ein.

MUSIKALISCHE UND INTERMEDIALE GRENZGÄNGE 

Auffällig viele Projekte in diesem MdzM unternehmen musikalische und intermediale Grenzgänge und suchen die Nähe zu anderen Genres und Sparten, auch wenn die Umsetzung im Einzelnen bisweilen grundverschieden ausfällt. 

Exemplarisch dafür steht »eclecticism ∞ LUX:NM« (1.9., Kesselhaus der Kulturbrauerei): Das auf neue Musik spezialisierte Ensemble LUX:NM lädt zur musikalischen Horizonterweiterung das Duo Witch'n'Monk, den Jazzmusiker Gebhard Ullmann und die Komponistin und Videokünstlerin Nicole Lizée ein. Bei der Eröffnung des Monats der zeitgenössischen Musik (2.9., FAHRBEREITSCHAFT ) kollaborieren das Ensemble KNM Berlin mit dem Turntable-Duo Vinyl -terror & -horror. Einen ähnlichen Weg schlägt auch das Zafraan Ensemble ein, wenn es bei seiner neuen Reihe Acud Session Verstärkung aus anderen Genres einlädt und diese Begegnungen mithilfe eines von François Sarhan entwickelten Log Books reflektiert. Gast der ersten Ausgabe (3.9., acud macht neu) ist die klassische Sopranistin Dénise Beck. Die Reihen Kiezsalon (Alison Cotton, Dylan Henner and Ichiko Aoba, 7.9., HKW), Audiovisionen (Gebrüder Teichmann / Robyn Schulkowsky, 17.9. Zwinglikirche und Contagious, 22.9., Zwinglikirche) und Klappkart Rumpeln (18.9., Studio 764) haben das Miteinander verschiedener Musikstile gar längst zum programmatischen Kern erklärt. Wie die Genregrenzen allein bei der Konzentration auf Saiteninstrumente aufgelöst werden können, beweist das DARA String Festival (10.+11.9., KM28), dessen Programm einen Bogen von früher zeitgenössischer bis zu experimenteller und frei improvisierter Musik spannt. 

Mit anderen Sparten der Kunst liebäugeln das auf einem Heiner-Müller-Text basierende Hörstück »Traumtext 2022« (17.9., Café hausZwei) sowie das Solistenensemble Kaleidoskop, das in »Tanz den Tanz« (18.+25.9.) mit Kunstwerken der Sammlung Hoffmann in den weit verzweigten Räumen der ehemaligen Nähmaschinenfabrik in einen Dialog tritt, bevor sie als Schenkung an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden übergehen.

TRANSTRADITIONELLE MUSIK 

Die neue Musik unserer Zeit löst sich zusehends von eurozentrischen Traditionen und Konzepten des Musizierens und Komponierens. Auf die Frage hin, wie eine neue transtraditionelle Musik klingen könnte, liefert die Freie Szene in diesem September eine Vielzahl von Antworten. 

Im Rahmen der zwei Ausgaben von »Sonic Borderlines« im acud macht neu rekombinieren und interpretieren das Ghaith Al Shaar Trio und Marcinowska, Mayr and Pschichholz historische Stile aus dem arabischen und zentraleuropäischen Raum durch eine zeitgenössische Perspektive (6.9.). In der gleichen Reihe kontrastieren das Ensemble KNM Berlin und Yogeswaran Manickam, Shashwathi Jagadish und Jeremy Woodruff Klassiker des 20. Jahrhunderts mit karnatischer Musik (25.9.). Derweil bringt das Festival Jeong Ga Ak Hoe (23.+25.9., ufaFabrik) alte und neue koreanischer Musik in Einklang. Ebenfalls von (süd-)ostasiatischer Musik lassen sich das Kairos Quartett (25.9., Nicolaisaal + 30.9., Villa Elisabeth) und das modern art ensemble (30.9., Konzerthaus) inspirieren. Kontraklang (10.9., St. Elisabeth Kirche) präsentiert mit Will Guthries Ensemble Nist-Nah und Pak Yan Laus Projekt Bakunawa zwei aktuelle europäische Ensembles, die sich in ihrer Musik explizit auf Gamelan beziehen. 

ENGAGIERTE MUSIK

Deutlich spürbar ist auch der wachsende Drang der Musik, sich einzumischen und Position zu beziehen. So spielen soziale und politische Themen der Gegenwart eine zentrale Rolle im diesjährigen Monat der zeitgenössischen Musik. 

Keyti, der bei der KlangKunstBühne (3.9.) einen Workshop gibt, hat mit dem Journal Rappé eine Art Bürger-Kunst-Journalismus mit tiefgreifenden Kommentaren zu politischen, sozialen und wirtschaftlichen Themen im Spannungsfeld von Journalismus, Kunst und Aktivismus, entwickelt. Die Marc Sinan Company macht in »Human Commodity« (17.9, Spreehalle Berlin) die Geschichte der Zwangsarbeit in Berlin zur Zeit der NS-Diktatur hörbar; ergänzt durch Sonic Bike Touren mit fahrenden Instrumenten von Kaffe Matthews (17.9, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit).

Das Y-E-S Kollektiv hinterfragt in seinem Y-E-S-Fest (10.-11.9, Uferstudios) das durchrationalisierte Zeitregime des Kunstbetriebes und stellt als Alternative die sozialen Aspekte des Zusammenkommens ins Zentrum, ohne dabei künstlerische Ansprüche und musikalische Entdeckungen aus den Augen zu verlieren: Es gibt Workshops zur Pflanzenkunde von Hildegard von Bingen und zu choreografischem Aktivismus in Feriengebieten eine Kopfhörer-Klanginstallation, die sich mit der Architektur des öffentlichen Raumes beschäftigt. Mit dabei sind Marcela Lucatelli, Viola Yip, Jessie Marino, Ehsan Shayanfard, Lucien Danzeisen u.v.m.

Überhaupt bieten sich im Rahmen des Monats der zeitgenössischen Musik zahlreiche Möglichkeiten der Partizipation. Das Festival für selbstgebaute Musik (4.9., Holzmarkt ) beispielsweise würde ohne die aktive Einbindung des Publikums gar nicht funktionieren. Gleiches gilt für »Urban Miniatures«, bei denen DieOrdnungDerDinge Passant*innen dazu einlädt, den Alltag neu wahrzunehmen.

KLANG UND ÖKOLOGIE

Während des MdzM werden nicht nur unsere Beziehungen untereinander reflektiert, sondern auch die zu unserer Umwelt. So tritt beispielsweise das Reanimation Orchestra (17.9. ) in einen gleichberechtigten musikalischen Dialog mit den kreuchenden und fleuchenden Klangerzeugern der unmittelbaren Umgebung der Floating University, die Konzertinstallation »flowers & frequencies« von AnA Maria Rodriguez (24.+25.9., FAHRBEREITSCHAFT) untersucht die akustischen Beziehungen zwischen Bienen und Blumen und »obitop:biotop« von und mit Ulrike Brand (9.9.) widmet sich dem Spannungsverhältnis vom Todesort zum Lebensort der Zitadelle Spandau, die heute Naturschutzgebiet und Heimat einer Fledermaus-Kolonie ist. Lena Mahler und Christina Ertl-Shirley gehen indes in »Totes Holz« (29.9., ausland) den verborgenen und offenbaren Beschaffenheiten von Totholz und den in es eingeschriebenen ökologisch-künstlerischen Fragen auf die Spur und lassen ihre Untersuchungen zu Partituren, audiovisuellen Skulpturen und Klangportraits werden.

KINDER UND JUGENDLICHE 

Diese intergenerational erfahrbaren Formate werden um Angebote ergänzt, die sich dezidiert an Kinder und Jugendliche richten. Mit »Sechse kommen durch die ganze Welt« erzählt Gordon Kampe mit LUX:NM ein Märchen der Gebrüder Grimm (23.+24., Atze Musiktheater) und auch die Maulwerker inszenieren in einer Ausgabe von Schrumpf! ihr Projekt »The Extended Voice« (25.9., Ballhaus Ost) als Mitmachstück für die ganze Familie. Das Programm präsentiert Vokalmusik des 21. Jahrhunderts zwischen erweiterten Stimmtechniken, Sprache als musikalisches Material und Stimme als Körperlichkeit in Bewegung (Originalfassung: 23.+24.9., Ballhaus Ost).

AKTUELL KOMPONIERTE KAMMERMUSIK

Verlässliche Adresse für aktuell komponierte Kammermusik in unterschiedlichsten Ausprägungen sind die Konzerte der Reihe Unerhörte Musik, die im September jeweils dienstags mit dem Ensemble du Bout du Monde, Mangold, dem Duo Couck-Moore und Roberto Maqueda dabei sind. Die Komponist*innen des Berliner Vereins Atonale e.V. setzen sich in »Ringrauschen« (22.9., Staatsoper) in mehreren Uraufführungen mit Wagners Musik auseinander, gespielt vom Echo Ensemble. Das Ensemble Berlin PianoPercussion stellt sich die ontologischen Fragen von Sein, Wirklichkeit und Existenz mit Werken von Elena Mendoza, Kee-Yong Chong, Lin Yang und Karen Tanaka. In eine musikalisch ganz andere Richtung bewegen sich Zinc and Copper mit der Fortsetzung der Reihe Well Tuned Brass (29.+30.9., KM28). Im Zentrum der künstlerischen Arbeit des außergewöhnlichen Blechbläserensembles steht die vielschichtige Auseinandersetzung mit Mikrotonalität und verschiedenen Stimmungssystemen. 

Das Konzert »Invocation« von Kymia Kermani und Alba Gentili-Tedeschi mit Werken von Clémence de Grandval bis Susanne Stelzenbach (2.9., Konzerthaus), die »Rencontres« zwischen Zafraan Ensemble und Ensemble l’Itinéraire (8.9., Delphi) sowie das Konzert für Solo-Klavier von Fidan Aghayeva-Edler (16.9., Ölberg-Kirche) würdigen allesamt zeitgenössische Komponistinnen und setzen damit produktive Akzente gegen weiterhin bestehende Gendergefälle. 

KLANGKUNST 

Stefan Roigk setzt in »TRACES—OF (chapter 2)« (bis zum 17.9., Spor Klübü) Text, Sound und Grafik in Verbindung. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch die von Daniela Fromberg kuratierte Ausstellung »Gegensprechanlage« (7.9.–8.10., Haus der Kunst), die Klang installativ, performativ und grafisch verhandelt. »Ipso Primero (Lostery 3)« von Clara Maïda (9.–11.9., errant sound) findet sein klangliches Material in der Welt der Geld- und Glücksspiele.

ECHTZEITMUSIK UND IMPROVISATION 

Beim Monat der zeitgenössischen Musik darf die Berliner Spezialität Echtzeitmusik und Improvistaion natürlich nicht fehlen! Dafür sorgen u.a. die montäglichen Konzerte der Reihe Improvised & Experimental bei Hošek Contemporary. Das “A” Trio, die ihres Zeichens älteste libanesische Improvisationsgruppe, startet ihre europäische Jubiläumstour bei Improvisation International (1.9., exploratorium), wo später im MdzM auch ZIMT spielen (20.9.). Parallel sind am gleichen Tag SAWT OUT mit einem Konzert in der Galiläakirche(20.9.) zu hören. Für die 57. Ausgabe der Reihe Experimentik treffen Andrea Parkins und Ignaz Schick am 7.9. im Tik aufeinander. Bei den biegungen im ausland (17.09.) präsentiert Alexandra Spence eine neue Arbeit, die die Beziehungen zwischen Körpern und Wasser, realen und imaginären Landschaften, Klang und Ökologie erforscht und Leider (Guo, Shirley, Singh, Dunscombe) spielt zerbrechliche Musik, die die dunklen Seiten des urbanen Lebens widerspiegelt.

ELEKTROAKUSTISCHE MUSIK² 

Gleich zwei Festivals bringen uns die stilistische Bandbreite Elektroakustischer Musik im September näher. Die Neuauflage des Festivals REFLUX (14.+16.+18.9., div. Orte) stellt zeitgenössische Positionen wie etwa von Sachiko M oder Tomoko Sauvage neben Klassiker von Charlemagne Palestine oder Delia Derbyshire. Ergänzt und erweitert wird der Schwerpunkt durch die Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst Kontakte ‘22 (16.+22.–25.9., AdK) mit dem ensemble mosaik, Lange/Berweck/Lorenz, Pony Says/Jessie Marino, Netta Weiser, Female Laptop Orchestra und vielen mehr ...

ZEITGENÖSSISCHE ORGELMUSIK 

Die Lange Nacht zeitgenössischer Orgelmusik (2.9., Lutherkirche Spandau) gewährt seit 2016 einen Einblick in die vielfältige Szene zeitgenössischer Orgelmusik. Auch die junge Organistin Angela Metzger widmet sich der Orgelmusik in ihrer gesamten Bandbreite: Bei ihrem Konzert in der Sophienkirche (10.09.) stellt sie Musik verschiedener Epochen gegenüber. Bei dem Konzert »Vom unendlichen Atem« mit Werken von Makiko Nishikaze und Stefan Lienenkämper für zwei Orgeln und Zuspiel interessieren sich Lothar Knappe (Orgel) und Liana Narubina (Orgelpositiv) für die spezifisch doppelchörige Situation und die hiermit einhergehende spezifisch räumliche Entfaltung von Tönen, ihre komplexen Bewegungen und Ausbreitungen (24.9., Matthäus-Kirche).