»Wir schaffen ein Chaos, das Potenziale öffnen soll.«
Jan Rohlf über 25 Jahre CTM Festival
15. Dezember 2023 | Kristoffer Cornils
15. Dezember 2023 | Kristoffer Cornils
Seit 25 Jahren vermisst das CTM Festival die Gegenwart und schaut dabei immer auch nach vorn. Das gilt ebenso für die Jubiläumsausgabe zwischen dem 26. Januar und 4. Februar unter dem Titel »Sustain«. Im Gespräch mit field notes-Redakteur Kristoffer Cornils gibt der künstlerische Leiter Jan Rohlf dementsprechend nicht nur Einblicke in die Anfangstage des Festivals.
Welches Potenzial habt ihr damals für ein Festival wie eures gesehen?
Wir alle hatten einen künstlerischen Hintergrund, waren aber auch viel im Nachtleben unterwegs. Die Berliner Clubkultur der späten Neunziger war sehr hybrid, in gewisser Weise ein erweiterter Kunstraum. Das hat Freiheiten geboten. Es gab keine Konventionen darüber, wie Clubs zu nutzen und zu bespielen sind. Dadurch erschienen viele Zwischenformen, die auf Interdisziplinarität, multisensorischen Erlebnissen und multimodalen Erfahrungen basierten. Wir wollten eine Plattform für diese Schnittstellen schaffen. Die transmediale präsentierte das Spektrum der Digital- und Medienkunst, es fehlte nur der Sound. Wir wollten uns da also reinpflanzen. (lacht) Weil ihnen die Ressourcen fehlten, haben wir es in der damals neu eröffneten Maria am Ostbahnhof auf eigene Faust als ein die transmediale begleitendes Nachtprogramm umgesetzt.
In den Folgejahren wurde Berlins Clubszene immer mehr zum Tourismusmagnet. Welche Konsequenzen hatte das für euch?
Die Stadt war anfangs weniger international, die Kulturszene kleiner, die Clubszene noch nicht dermaßen divers wie heute und die ökonomische Situation eine ganz andere. Unser Gedanke war es deshalb, die Menschen mehr zusammenzubringen – auch über Berlin hinaus. Es war ein Glück, dass wir das alles organisch entwickeln konnten. Wir konnten uns Fehler erlauben und unsere intrinsische Motivation stets im Vordergrund halten, während sich unser Netzwerk zunehmend vergrößerte. Heutzutage bietet sich neuen Projekten eine andere Situation. Es gibt einen anderen ökonomischen Druck, der das kreative Handeln überformt. Die Erwartungshaltungen sind hoch und alle müssen von 0 auf 100 Prozent hochprofessionell agieren. Wir konnten im Vergleich dazu in einem Schutzraum experimentieren, der aber natürlich auch seine ganz eigenen Risiken hatte.
Stichwort Räume: Die Kehrseite des Runs auf Berlin hat seine Spuren in der Clubszene hinterlassen. Die Maria am Ostbahnhof gibt es schon lange nicht mehr, genauso erging es vielen anderen Clubs und Spielstätten. In der Tendenz wird das Kulturleben sukzessive aus der Innenstadt gedrängt.
Unser ursprüngliches Konzept sah vor, nur einen Ort zu bespielen, dessen Räume sich alle Beteiligten miteinander für zehn Tage teilen mussten. Wir wollten zwischen den Stühlen sitzen, statt einer bestimmten Szene oder Gemeinschaft zugehörig zu sein. Möglich war das, weil die Räume selbst nicht auf die Art reguliert wurden, wie das heute der Fall ist. Auch Ordnungsamt oder der TÜV haben schlicht nicht so genau hingeschaut. (lacht) Und die Betreiber*innen konnten gelassener sein – manche haben uns die Schlüssel in die Hand gedrückt und sind in den Urlaub gefahren! Wir durften sogar räumliche und bauliche Veränderungen vornehmen. Das alles hat sich im Laufe der Zeit verändert, doch hat Berlin viele wunderbare Räume, die unterschiedliche Möglichkeiten eröffnen. Heute bietet das CTM Festival so etwas wie eine Wanderung durch die Berliner Kulturlandschaft. Natürlich aber machen wir uns über das Verschwinden der Orte genauso Sorgen wie über das Schwinden der Unterschiede in den Organisationsstrukturen und Zielsetzungen dessen, was da ist. Auch diese Form von Reichtum muss bleiben – und zwar nicht nur am Stadtrand.
Räume mussten weichen oder sich angleichen, zugleich sind über die Jahre verschiedene Stadtfestivals hinzugekommen.
In Berlin läuft an 365 Tagen im Jahr ein Festival! Selbst unser sehr verdichtetes Programm gehört zum alltäglichen Gefüge. Es stimmt natürlich, dass viele Festivals dazugekommen sind. Das ist toll und macht Berlin einzigartig. Unser Ansatz war es immer schon, eine in viele Richtungen geöffnete, integrative Plattform zu schaffen. Wir wollen diverse Kunstpraktiken, Disziplinen, Musiken und Kontexte miteinander verbinden, um verschiedene Bubbles in den gegenseitigen Austausch zu bringen. Ich denke, dass wir damit weiterhin herausstechen. Die von uns produzierte Überforderung ist noch einmal größer als anderswo! (lacht) Das haben wir uns auch zum Konzept gemacht. Wir schaffen ein mentales und körperliches Chaos, das Potenziale öffnen soll. Wer in den vollen zehn Tagen das gesamte Festival erlebt, baut Filter ab und wird kommunikativer. Gerade weil man auch immer etwas verpasst! Das führt dazu, dass man sich mit anderen Besucher*innen austauscht. (lacht)
Mit euren Ansprüchen geht ein großer Aufwand einher. Die Pandemie und die darauf folgenden multiplen Krisen machen der Festivalbranche aktuell schwer zu schaffen. Wie haltet ihr den Kopf über Wasser?
(seufzt) Wo fange ich an? (lacht) Wir kommen aus DIY-Kontexten, und in das CTM Festival wurde viel unbezahlte Arbeit gesteckt. Wir können auf Erfahrungen aufbauen, die uns in schweren Zeiten helfen. Der Dauerausnahmezustand der letzten Jahre hat uns aber in vielerlei Hinsicht an die Belastungsgrenze gebracht. Wir rechnen derzeit mit Kostensteigerungen von 30 bis 35 Prozent, die sich nicht so einfach abfedern lassen. Sponsoring-Partnerschaften zu arrangieren, wird zunehmend schwieriger, und in der Kulturförderung wird der Gürtel enger geschnallt. Wir haben das große Glück, dass unsere vierjährige Förderung fortgesetzt wird, die Summe aber wurde reduziert. Die geringere Fördermenge stellt uns in Kombination mit Kostensteigerungen vor eine große Herausforderung. Wir mussten das Programm beschneiden. Es wird keine Ausstellungen geben und das Festival findet an weniger Spielorten statt, insgesamt zählen wir weniger Projekte und Teilnehmer*innen. Es ist schwer zu sagen, mit welchen Einnahmen wir rechnen können. Aus der Clubszene hören wir von Umsatzeinbußen von etwa 20 bis 30 Prozent. Wie die Rechnung am Ende für uns aufgehen könnte, ist schwerer als früher vorauszusagen.
Das diesjährige Oberthema lautet »Sustain«, was sich auf das Jubiläum bezieht und auch der wirtschaftlichen Lage Rechnung trägt. Der Begriff kann aber noch mehr bedeuten.
Natürlich steht das Thema unter dem Zeichen der zurückliegenden Jahre und der Schwierigkeit, all das durchzustehen. Ich stelle mir das gerne als einen stehenden Ton im Ohr vor. Eine Art Tinnitus, der wie die ständige Krise nicht aufhört und quälend ist. Wir müssen aber auch Antworten und Auswege suchen! »Sustain« kann ebenso bedeuten, etwas zu erhalten, zu pflegen, zu nähren und aufzubauen. Das ist unser Anliegen. Zusätzlich kann es zum Ausdruck bringen, einen Schmerz oder Verlust zu durchleiden. Musik ist ein Lebensmittel – viele Menschen nutzen sie, um in schweren Zeiten ihren Gefühlen einen Raum zu verschaffen. Um sie durchzustehen, um sich aufzurichten.
Wie haben diese Gedanken die Programmierung des Festivals geleitet?
Unsere Themen geben unserer Arbeit einen Rahmen, wir schneiden aber nicht alles auf sie zu. Wir haben seit jeher ein Interesse an der extremen Arbeit mit Sound, und ein innerer Aufruhr kann sich in klanglichem Aufruhr Bahn brechen. Im Eröffnungsprogramm in der Betonhalle des silent green Kulturquartier spiegelt sich das wider. Es wird Performances von hoher Intensität geben, die an die Grenzen gehen – emotional, körperlich und ästhetisch. Ben Frost etwa ist für seine extremen Dynamiken zwischen Lautem und Leisem, Dissonanz und Harmonie bekannt; für Spannungen, die sich explosionsartig entladen. Sein Auftritt mit Gitarrist Greg Kubacki und dem für das Lichtkonzept verantwortlichen Künstler Tarik Barri wird unheimlich verzerrt und rau. Das passt gut in unsere Zeit. Auch Anna von Hausswolff stellt ihr neues Album vor. Mit Gesang, Orgel, Elektronik, Gitarre und Schlagzeug erzeugt sie eine Wall of Sound mit einer mitreißenden emotionalen Dramatik. Das ist sehr …
Gothic.
Ja! Auch so lässt sich auf Krisen reagieren. Dazu kommt unter anderem Osmium, ein gemeinsames Projekt von Hildur Guðnadóttir, James Ginzburg, Rully Shabara und Sam Slater. Sie haben eigene Saiteninstrumente entwickelt, die über eine Mechanik perkussiv gespielt werden. Ihre komplexen Rhythmen dialogisieren mit denen der Instrumentalist*innen, die Maschine ringt mit dem Menschlichen. Wir haben das mit einem gemeinsamen Projekt von Ale Hop und Laura Robles aus Peru zusammengelegt. Robles spielt die Cajón, ein Instrument mit einer interessanten Geschichte: Entwickelt wurde es von schwarzen Sklav*innen, weil ihnen damals Trommeln mit Fellen verboten waren. Das auf dem Instrument entwickelte Repertoire greifen die beiden neu auf. Sie wollen die Rhythmen im Licht ihrer afroperuanischen Wurzeln mit den klanglichen Mitteln der Jetztzeit neu interpretieren. Das schließt auch die körperlichen Bewegungen zu dieser Musik mit ein: Die beiden arbeiten mit einer Tänzerin zusammen. Die Zusammenkunft verschiedener Menschen mit unterschiedlichen Praktiken spielt für uns generell eine große Rolle in der Programmarbeit.
Ihr arbeitet auch mit einer alten Partnerin zusammen: Das Projekt »Oceanic Refractions« wird gemeinsam mit der transmediale ausgerichtet. Worum handelt es sich?
Um eine große immersive Installation in der Kuppelhalle des silent green Kulturquartiers, die von AM Kanngieser und Mere Nailatikau entwickelt wurde. Gemeinsam mit weiteren Akteur*innen haben sie im pazifischen Raum mit verschiedenen Menschen aus unterschiedlichen indigenen Gemeinschaften das Gespräch gesucht. Ihnen soll durch die Installation eine Stimme gegeben werden, damit sie von ihren Erfahrungen der sich vor Ort bereits viel dramatischer als hierzulande vollziehenden Klimakrise ebenso wie von ihrem Wissen über Beziehungen zwischen der Natur und Menschen sprechen können. Die Installation ist der Versuch einer neuen Form der Klimakommunikation. Sie will mehr Bewusstsein für die dringliche Lage schaffen, und die Kunst bietet dafür Möglichkeiten, die über die bloßen Fakten und passivierende Horrorszenarien einer klimatischen Katastrophe hinausgehen. An Informationen und Alarmsignalen mangelt es ja nicht. Doch fällt es uns allen schwer, die entsprechenden Maßnahmen anzupacken. Es braucht vielleicht einen empathischeren Zugang.
»Multisensorisch« soll die Installation sein. Was heißt das?
Unter anderem können sich die Besucher*innen auf kinetischen Sitzgelegenheiten niederlassen, um Wasserbewegungen – oder deren Instabilität – zu erfahren, während die Kuppel und weitere Videoelemente mit einer 360°-Projektion bespielt werden. Umgeben ist das alles von einem Raumklang-Audiosystem, auf dem eine Komposition von Kanngieser und KMRU zu hören sein wird, die auf Field Recordings aus der Region basiert. Dazu kommt sogar Geruch! Ziel ist es, die Besucher*innen in die pazifische Welt hineinzuversetzen. Deshalb dürfen sich auch nur wenige Menschen zugleich in der Kuppelhalle aufhalten. Die Installation richtet sich aber nicht an Klangkunst-Spezialist*innen, sondern soll niedrigschwellig sein.
Klangkunst spielt in Zukunft eine größere Rolle – das CTM Festival ist neben fünf anderen europäischen Institutionen seit Kurzem Teil des Netzwerks tekhnē. Was hat es damit auf sich?
Es handelt sich um ein von der Europäischen Union gefördertes, mehrjähriges Projekt. Konkret geht es darum, wie technologische Ansätze neue Möglichkeiten einer inklusiveren Erfahrung von und Arbeit mit Klangkunst schaffen können. Daran arbeiten wir in den Folgejahren – das Projekt ist noch ganz neu. Eine Performance der diesjährigen Festivalausgabe steht damit aber schon im Zusammenhang. Der Künstler Marco Donnarumma hat einen degenerativen genetischen Defekt und verliert sukzessive sein Gehör. Seit einigen Jahren steht deshalb das Thema der Prothetik im Zentrum seiner Arbeit. Wie können Prothesen uns andere Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnen, ohne dabei lediglich vermeintliche Mängel zu beheben? Wie können sie künstlerisch eingesetzt werden? Er hat den Kontakt zu Mitgliedern der Gemeinschaft von Gehörlosen gesucht und sich in Workshops mit ihnen über die (Nicht-)Wahrnehmung von Sound und ihr Verhältnis zu Hörprothesen ausgetauscht. Er arbeitet zudem mit einem Forschungsinstitut an der Universität von Reykjavík zusammen, das sich mit musikalischen Interfaces befasst. Er hat Zugriff auf KI-Algorithmen bekommen, mit denen heutzutage Hörprothesen gesteuert werden, und selbst künstlerische Prothesen entwickelt. Mit Transducern kann er Schall auf den Körper weiterleiten und im selben Zug über Körpersensoren wieder in Schall umwandeln. So macht er seinen Körper zum Instrument, das er auch an andere Körper ankoppeln kann, indem die Prothesen weitergeben werden. Das alles stellt Fragen danach, wie wir hören. Hören wir mit dem ganzen Körper? Wenn ja, wie können wir uns darüber miteinander verständigen? Wie kann ich dir mein Hören und du mir dein Hören vermitteln? Damit sind wir wieder beim Thema »Sustain«: Wir sollten genauer auf unsere Unterschiedlichkeit hören und sie als einen Reichtum verstehen lernen.