Du siehst gewisse Parallelen zwischen Rausch und Sucht auf der einen und Musik auf der anderen. Welche?
Sagardía: Ich habe mich intensiv mit diesen Begriffen auseinandergesetzt und Antennen dafür entwickelt, wann immer es um Drogen geht. »Aha, da wird Sucht erwähnt! Oh, guck! Da geht es um Drog– … Ach, nee, ist nur ein Drogeriemarkt …«
(Gelächter)
Sagardía: Ich habe aber Aussagen von Menschen aus dem Bereich der klassischen und zeitgenössischen Musik gesammelt, die meines Wissens kaum oder gar nicht mit Drogen in Berührung gekommen sind, und die trotzdem von Musik als Rausch, Droge oder Glückshormon sprechen. Ich habe auch angefangen, zu den Beziehungen zwischen Musik und psychoaktiven Substanzen zu forschen.
Was hast du herausgefunden?
Sagardía: Eine im Jahr 2011 veröffentlichte Studie an der Universität von Toronto hat die Dopaminausschüttung bei der Erfahrung von Musik gemessen. Es werden genau dieselben zerebralen Regionen aktiviert wie durch Kokain, Crystal Meth, MDMA, Heroin, eine Zigarette oder Kaffee. Endlich verstanden zu haben, wie die Umwandlung von elektrischen zu chemischen Aktionspotentialen funktioniert, hob für mich den Diskurs auf eine ganz andere Ebene. Musik ist für manche Menschen unglaublich überlebenswichtig – so wie es für andere Drogen oder Fallschirmspringen ist, weil ihnen das einen Kick bereitet.
Clara, Richard: Wie seht ihr das aus der Sicht von Musiker*innen?
Clara: Denke ich an Sucht, kommt mir das ständige Üben und meine Beziehung zu meinem Instrument in den Sinn. Auf eine Art bin ich danach süchtig.
Wird das von einem äußeren Zwang ausgelöst?
Clara: Nein. Ich würde auch üben, wenn gerade kein Konzert ansteht. Für mich stellt es eine Art der Selbsterfahrung und Selbstwirksamkeit dar: Es ist meine Art, mich auszudrücken. Wenn ich längere Zeit nicht spiele, habe ich das Gefühl, nicht ganz bei mir selbst zu sein. Mir fehlt ein Austausch mit mir selbst, den ich auf keine andere Art erfahren könnte. Anderen Menschen geht es sicherlich mit anderen Dingen ähnlich. Auf der Bühne kommt es in bestimmten Momenten auch zu rauschartigen Zuständen, das hat für mich aber eher mit dem Gefühl eines gemeinsamen Erlebnisses zu tun. Ob mit einem Duo-Partner oder mit einem Orchester: Manchmal kommt eine unglaubliche Energie zusammen, die sich durch Musik kanalisiert.
Sagardía: Auch Abhängige sind sehr kontrolliert in der Art und Weise, wie sie ihren Rausch herstellen. Wie sie ihre Handlungsweisen zur Beschaffung von Drogen anordnen, ist neurobiologisch betrachtet genau dasselbe wie die Anordnung deines Fingerspiels. Wenn du ein Stück einübst und daran arbeitest, an einer bestimmten Stelle einen emotionalen Höhepunkt zu erreichen, erarbeitest du dir durch die Übung eine synaptische Bahnung. Du trainierst dein Gehirn dazu, schneller dorthin zu kommen. Drogen zu organisieren, geht mit sehr viel Arbeit einher! Dazu braucht es unglaubliche Fähigkeiten. Die Frage ist, wie sie sich in etwas anderes umleiten ließe, das genauso viel Befriedigung bereitet.
Richard: Als Interpret zeitgenössischer Musik kenne ich zwei verschiedene Arten des Musikmachens, die etwas mit Rausch und Kontrolle zu tun haben. Nehmen wir die Stücke von Iannis Xenakis oder Steve Reich: Sie erfordern unglaublich viel Disziplin, Organisation und Methode in den Proben, damit auf der Bühne gewisse Zustände entstehen. Dieses Loslassen muss es geben, insbesondere bei solchen Stücken – sonst klingt es viel zu zahm. Schon nett, aber die Säfte geraten darüber nicht in Wallung!
(Gelächter)
Richard: Es gibt aber auch Musik wie die von Anton Webern, Helmut Lachenmann oder eben Sagardía – unglaublich reduziert, durchdacht und konstruiert, zugleich jedoch von einer unglaublichen emotionalen Tiefe und Reichhaltigkeit, die sich mir als Interpreten im Laufe der Jahre immer weiter erschließt. Die Arbeit daran gestaltet sich rauschhaft. Bei den Proben zu »Die Biologie des Verlangens« ticken wir regelmäßig aus! Wir versuchen, uns in die Zustände zu versetzen, die wir zum Ausdruck bringen wollen. Wir wollen verstehen, was passiert, wenn wir über fünf Töne hinweg von einem fünffachen Pianissimo zu einem sechsfachen Fortissimo übergehen, und warum es passiert! Das muss während der Probe erlebt und erlernt werden, damit wir es auf die Bühne tragen können.