»In einer Leistungsgesellschaft ist die Neigung zum Rausch leicht zu erklären.«

Sagardía und Duo Interconnections im Interview

16. November 2023 | Kristoffer Cornils

Links ein Portrait von Sargadia, rechts eins des Duos.
©Stephanie Eley / Janine Kühn

»Die Biologie des Verlangens. Über die Beziehung zwischen Sucht und Musik« lautet der Titel eines Lecture-Konzerts des Komponisten Sagardía in der Galerie Nemtsov am 23. November. Mit der Veranstaltung knüpft er thematisch an ein ähnlich strukturiertes Gesprächskonzert im November letzten Jahres an: Die Diskussion seiner persönlichen Erfahrungen mit Drogenabhängigkeit wurde von Interpretationen seiner Stücke durch das Ensemble Adapter eingerahmt und kommentiert. Am 23. November wird das vergleichsweise junge Projekt Duo Interconnections drei weitere Stücke Sagardías aufführen, von denen eines speziell für das Duo komponiert wurde. Erneut wird der musikalische Teil diskursiv durch einen Vortrag des Komponisten angereichert. Clara Simarro (Harfe) und Richard Putz (Schlagwerk) vom Duo Interconnections saßen bei einer Tasse schwarzen Tees gemeinsam mit dem Komponisten und field notes-Redakteur Kristoffer Cornils an einem Tisch, um bereits vorab über Drogen, Musik und die Zusammenhänge zwischen ihnen zu diskutieren.

Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von Drogen reden?

Sagardía: Von allem, was psychoaktivierend ist. Das schließt neben Drogen im engeren Sinne genauso Verhaltensweisen ein – Kleptomanie, Glückspiel, die Sucht nach Macht oder Geld. All das aktiviert die neurobiologische Anordnung über das hinaus, wozu körpereigene Substanzen in der Lage sind. Es geht um eine extreme synaptische Befeuerung, die keinen Bezug zu der äußeren Wirklichkeit hat. Im Zuge meiner Recherchen habe ich herausgefunden, dass der ursprüngliche Begriff »Droge« einen Trocknungsprozess von Substanzen beschreibt, die aus tierischen oder pflanzlichen Stoffen gewonnen werden. Ab Mitte des 19. Jahrhundert geschah das zunehmend durch industrielle Verfahren. 

Das Resultat kommt oft in Pulverform, die beliebteste Droge aber ist eine flüssige.

Sagardía: Es gibt tatsächlich mehr Nikotinabhängige als Alkoholsüchtige in Deutschland! Ungefähr 80 bis 90 Prozent aller Menschen, die starke Drogen konsumieren, werden überhaupt nicht süchtig. Sie substituieren Formen der Erwartung und Befriedigung durch andere Dinge in ihrem Leben. Die anderen zehn bis maximal 20 Prozent sind still oder offen abhängig. Zu dieser Gruppe gehörte ich. 

Wie definiert sich Abhängigkeit?

Sagardía: Aus meiner Erfahrung heraus definiere ich Abhängigkeit als etwas, das mit Leid zusammenhängt. Das Erste, worunter ich gelitten habe, war, dass ich keine Musik mehr machen konnte. Ich habe sieben Jahre lang unter unglaublich tollen Komponist*innen studiert und nach meinem Abschluss tolle Förderungen bekommen. Den Zusammenbruch von alledem zu erleben, hat einen großen Leidensdruck ausgelöst. Das war der Moment, in dem ich mich entschlossen habe, nicht mehr weiter leiden zu wollen. Ich wollte wieder die Fähigkeit haben, Musik zu machen.

Wieso hat dich die Abhängigkeit vom Komponieren abgehalten?

Sagardía: Ich gehöre nicht zu der Gruppe von Menschen, für die der Drogenkonsum eine kreative Ressource, eine Inspiration ist. Ich habe Drogen genommen, um mich sexuell zu befreien. Mein Konsum war mit der Jagd nach Sex verbunden. Sex, Drugs … Nur den Rock’n’Roll gab es nicht. Sobald ich berauscht war, konnte ich mich nicht mehr der Musik widmen. Ich fertige meine Partituren handschriftlich an und lege viel Wert auf Genauigkeit. Im berauschten Zustand war das nicht möglich.

In der zeitgenössischen Musik scheint das Thema gar nicht diskutiert zu werden.

Clara: Im Jazz etwa gelten Drogen als etwas, das kreative Prozesse anregt. Als ausübende Künstler*innen ist das allein schon deshalb weniger relevant, weil wir auf unsere motorischen Fähigkeiten angewiesen sind. (lacht) Proben, große Auftritte: Das sind Situationen, die Angst auslösen können. Es gibt deswegen verschiedene Stoffe, die manche Menschen einnehmen, um Stress oder Lampenfieber zu kompensieren – Betablocker oder herzschlagregulierende Medikamente etwa. Drogen spielen also eher im Kontext der psychischen Verarbeitung von Leistungsdruck oder des sozialen Miteinanders eine Rolle. 

Richard: Ich bin mit 18 Jahren nach Salzburg gezogen und kam in ein Metier, in dem es dazugehörte, nach den Proben oder dem Konzert zusammen zu trinken. Mein Trinkverhalten war weit von dem entfernt, was normal ist. Als Musiker arbeite ich nicht mit kaltem Material. Ich klappe nicht am Ende des Arbeitstags den Computer zu und gehe nach Hause. Die Beschäftigung mit dem eigenen Beruf und sich selbst ist eine dauerhafte. Es liegt, glaube ich, deshalb für viele nahe, bestimmte Unsicherheiten oder Unzulänglichkeiten mit Alkohol zu überwinden. Diese Umstände werden in der zeitgenössischen Musik aber meistens verschwiegen.

Sagardía: Die Kulturgeschichte der Pharmakologie erklärt nie, welche sozialen Umstände den Konsum bestimmter Substanzen bedingen. In einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft ist die Neigung zum Rausch aber nicht schwer zu erklären. Meine Therapeutin wollte einmal wissen, wovon ich eigentlich als Komponist lebe. Ich meinte: Zuerst muss ich froh sein, wenn ich überhaupt sichtbar bin. Dann darüber, Kompositionsaufträge zu bekommen. Dann darüber, dafür genug Geld zu bekommen. Dann darüber, wenn ich ein Orchester meine Musik spielen will. Und wenn ich das geschafft habe, muss ich auch noch darüber froh sein, wenn es dem Publikum gefällt. Und dass ich gute Kritiken oder überhaupt Besprechungen meiner Arbeit bekomme. Sie sagte daraufhin: »Das sind so viele verschiedene Schritte hin zu einem Gefühl von Selbstzufriedenheit! Wenn man am Ende emotional zerstört ist, obwohl man bereits vier von ihnen gegangen ist und das aber nicht ausreicht … Na, dann würde ich auch Drogen nehmen!«

(Gelächter)

Warum setzt du dich mit dem Themenkomplex als Komponist auseinander?

Sagardía: Im Jahr 2020 habe ich nach acht Jahren der Abhängigkeit einen kalten Entzug und eine sechsmonatige Therapie gemacht. Das lässt sich nicht einfach in der Schublade ablegen und vergessen! (lacht) Als ich wieder begonnen habe, Musik zu machen, schwang das Thema überall mit. Ich stand vor einer Entscheidung: Wollte ich es ins Unbewusste verbannen, wie ich schon unbewusst meine schwule Seite unterdrückt und schließlich Drogen genommen habe, um meine sexuelle Befreiung anzustoßen? (schlägt mit der Hand auf den Tisch) Nein! Ich wollte es bewusst angehen. Am Anfang stand die Auseinandersetzung mit der Überwindung schwerer Abhängigkeit durch Therapie. So entstanden die für das Ensemble Adapter geschriebenen Stücke. Bei dem Gesprächskonzert im letzten November habe ich das erste Mal öffentlich über meine Erfahrungen gesprochen. 


Du siehst gewisse Parallelen zwischen Rausch und Sucht auf der einen und Musik auf der anderen. Welche?

Sagardía: Ich habe mich intensiv mit diesen Begriffen auseinandergesetzt und Antennen dafür entwickelt, wann immer es um Drogen geht. »Aha, da wird Sucht erwähnt! Oh, guck! Da geht es um Drog– … Ach, nee, ist nur ein Drogeriemarkt …«

(Gelächter)

Sagardía: Ich habe aber Aussagen von Menschen aus dem Bereich der klassischen und zeitgenössischen Musik gesammelt, die meines Wissens kaum oder gar nicht mit Drogen in Berührung gekommen sind, und die trotzdem von Musik als Rausch, Droge oder Glückshormon sprechen. Ich habe auch angefangen, zu den Beziehungen zwischen Musik und psychoaktiven Substanzen zu forschen. 

Was hast du herausgefunden?

Sagardía: Eine im Jahr 2011 veröffentlichte Studie an der Universität von Toronto hat die Dopaminausschüttung bei der Erfahrung von Musik gemessen. Es werden genau dieselben zerebralen Regionen aktiviert wie durch Kokain, Crystal Meth, MDMA, Heroin, eine Zigarette oder Kaffee. Endlich verstanden zu haben, wie die Umwandlung von elektrischen zu chemischen Aktionspotentialen funktioniert, hob für mich den Diskurs auf eine ganz andere Ebene. Musik ist für manche Menschen unglaublich überlebenswichtig – so wie es für andere Drogen oder Fallschirmspringen ist, weil ihnen das einen Kick bereitet. 

Clara, Richard: Wie seht ihr das aus der Sicht von Musiker*innen?

Clara: Denke ich an Sucht, kommt mir das ständige Üben und meine Beziehung zu meinem Instrument in den Sinn. Auf eine Art bin ich danach süchtig. 

Wird das von einem äußeren Zwang ausgelöst?

Clara: Nein. Ich würde auch üben, wenn gerade kein Konzert ansteht. Für mich stellt es eine Art der Selbsterfahrung und Selbstwirksamkeit dar: Es ist meine Art, mich auszudrücken. Wenn ich längere Zeit nicht spiele, habe ich das Gefühl, nicht ganz bei mir selbst zu sein. Mir fehlt ein Austausch mit mir selbst, den ich auf keine andere Art erfahren könnte. Anderen Menschen geht es sicherlich mit anderen Dingen ähnlich. Auf der Bühne kommt es in bestimmten Momenten auch zu rauschartigen Zuständen, das hat für mich aber eher mit dem Gefühl eines gemeinsamen Erlebnisses zu tun. Ob mit einem Duo-Partner oder mit einem Orchester: Manchmal kommt eine unglaubliche Energie zusammen, die sich durch Musik kanalisiert.

Sagardía: Auch Abhängige sind sehr kontrolliert in der Art und Weise, wie sie ihren Rausch herstellen. Wie sie ihre Handlungsweisen zur Beschaffung von Drogen anordnen, ist neurobiologisch betrachtet genau dasselbe wie die Anordnung deines Fingerspiels. Wenn du ein Stück einübst und daran arbeitest, an einer bestimmten Stelle einen emotionalen Höhepunkt zu erreichen, erarbeitest du dir durch die Übung eine synaptische Bahnung. Du trainierst dein Gehirn dazu, schneller dorthin zu kommen. Drogen zu organisieren, geht mit sehr viel Arbeit einher! Dazu braucht es unglaubliche Fähigkeiten. Die Frage ist, wie sie sich in etwas anderes umleiten ließe, das genauso viel Befriedigung bereitet. 

Richard: Als Interpret zeitgenössischer Musik kenne ich zwei verschiedene Arten des Musikmachens, die etwas mit Rausch und Kontrolle zu tun haben. Nehmen wir die Stücke von Iannis Xenakis oder Steve Reich: Sie erfordern unglaublich viel Disziplin, Organisation und Methode in den Proben, damit auf der Bühne gewisse Zustände entstehen. Dieses Loslassen muss es geben, insbesondere bei solchen Stücken – sonst klingt es viel zu zahm. Schon nett, aber die Säfte geraten darüber nicht in Wallung! 

(Gelächter)

Richard: Es gibt aber auch Musik wie die von Anton Webern, Helmut Lachenmann oder eben Sagardía – unglaublich reduziert, durchdacht und konstruiert, zugleich jedoch von einer unglaublichen emotionalen Tiefe und Reichhaltigkeit, die sich mir als Interpreten im Laufe der Jahre immer weiter erschließt. Die Arbeit daran gestaltet sich rauschhaft. Bei den Proben zu »Die Biologie des Verlangens« ticken wir regelmäßig aus! Wir versuchen, uns in die Zustände zu versetzen, die wir zum Ausdruck bringen wollen. Wir wollen verstehen, was passiert, wenn wir über fünf Töne hinweg von einem fünffachen Pianissimo zu einem sechsfachen Fortissimo übergehen, und warum es passiert! Das muss während der Probe erlebt und erlernt werden, damit wir es auf die Bühne tragen können.

Wie kam die Zusammenarbeit zwischen euch zustande?

Sagardía: Richard hatte mich wegen meiner Stücke für Schlagwerk angeschrieben. Ich hatte zu dieser Zeit ein Stipendium und der Plan war, ein größeres Lecture-Konzert zu organisieren. Es war mir sehr wichtig, sowohl einen Vortrag zu halten als auch Musik zur Aufführung zu bringen. Ein Stück für Harfe hatte ich bereits, für Schlagwerk sowieso – dazu kam ein neues Stück, mit dem ich noch weiter gehen konnte. Die Frage war: Welche musikalisch-rhythmischen Modelle kann ich entwickeln, die auf die Erkenntnisse aus der Studie an der Universität von Toronto antworten können? Drogen schaffen eine Abkürzung zwischen Erwartung und Befriedigung. Mein Stück versucht, das musikalisch mittels Harfe und Schlagwerk umzusetzen. Dazu gehört unter anderem, das mitzählende Hören von Ritardando-Strukturen zu aktivieren, und sie obendrein extrem in die Länge zu ziehen. Wenn die Musiker*innen beim mithörenden Zählen sich selbst und die Orientierung verlieren, kommt es zu einem Kontrollverlust wie bei einem Drogenrausch. 

Richard: Es war anfangs kaum auszuhalten, diese Sequenzen zu spielen. Es läuft alles zuwider, was man sonst täte! Das wirkt sich darauf aus, wie es sich während des Spielens anfühlt. Es muss kultiviert und transportiert werden. Es hat auch einen klanglichen Sinn, geht von unglaublich weich zu unglaublich hart, von extrem lang bis extrem kurz über. Das fordert uns natürlich heraus.

Clara: Es darf nicht einfach nur nach Harfe und Marimba klingen. Das Duo-Stück beginnt damit, dass ich mit einem Paukenschlägel auf die Harfe trommele. Das Instrument wird als Klangkörper verwendet, als Mediator einer bestimmten Aussage. Ich arbeite mit einem sehr klaren Kosmos von Klängen, die gemeinsam mit dem Schlagwerk sehr spezifisch verwendet werden. Das erlaubt mir auch, mich über die gängigen Klischees der Harfe hinwegzusetzen. 

Richard: Die Begeisterung darüber, der Harfe eine gewisse Gewalt und Energie zu verleihen, stand am Anfang unserer Zusammenarbeit als Duo Interconnection. Umgekehrt beginnt das Schlagwerk im selben Stück übrigens mit einer Harfentechnik. 

Sagardía: Ihr habt aus dem Stück noch viel mehr rausgeholt, als ich vorgeschrieben hatte! 

Richard: Es ist ja nicht interessant, eine Partitur einfach nur zu realisieren. Viel spannender ist es, sie zu interpretieren. Ein gutes Stück bietet den Raum dazu und wir nehmen ihn uns. Es wird extreme Klänge zu hören geben, die in einem kleinen Raum wie diesem an die Grenze gehen. Es wird heftig. 

Sagardía: Darin spiegeln sich die extremen Momente, wie sie Abhängige erleben. Es gab zum Beispiel eine Zeit, in der ich mir Crystal Meth injiziert habe. Es ist wichtig, zu illustrieren, wie der Drogenkonsum immer extremer wird, um den Rausch zu vergrößern. Für Außenstehende ist es unverständlich, wie Menschen ihren gesamten Alltag danach ausrichten können. Aber wenn die Disposition der Abhängigkeit nachvollziehbar gemacht wird, dann wirkt all das nicht mehr unbedingt extrem – höchstens intensiv. Ich hoffe, das schaffe ich mit meiner Musik.

 

Transparenzhinweis: Sagardía ist Vorstandsmitglied bei der inm.

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