Auflösung oder Transformation? – Eine Problemskizze zur Lage zeitgenössischer Musik heute

field notes #7

1. Mai 2018 | Gisela Nauck

Mann, dem in dem Mund gefasst wird
©Alexander Schubert

Seit ihren Anfängen in den 1910er Jahren provoziert die musikalische Avantgarde die Frage: Ist das noch Musik? Denn die Geschichte der Avantgarde war von Anfang an eine Geschichte der experimentellen Erkundung von Tonraum, Genre und Aufführungspraxis, erweitert um Elemente aus Bildender Kunst, Theater, Dichtung, Film und Alltag. Zwei Entwicklungen sorgen in jüngster Zeit erneut für Veränderungen dieses erweiterten kompositorischen Settings: Zum einen hat eine junge Komponist*innengeneration die autonome Klangmaterialästhetik endgültig über Bord geworfen. Zum anderen erfasst die digitale Revolution auch das Komponieren. Der Schwerpunkt kompositorischer Gestaltung verlagert sich dadurch noch deutlicher auf visuelle, performative und mediale Prozesse.

An die Stelle der Frage »Ist das noch Musik?« trat in jüngster Zeit die vor allem von Johannes Kreidler vertretene These »Musik löst sich auf.« Die Parameter verschiedener Kunstsparten treten auf neue Weise zusammen, der bisher gültige Musikbegriff wird ein historischer. Angesichts der Geschichte der Avantgarde im 20. Jahrhundert lautet meine Gegenthese dazu: Zeitgenössische Musik löst sich nicht auf, sondern durchläuft in ihrer Dialektik von Materialerneuerung und Entgrenzung eine weitere Transformationsstufe. Es entstehen wieder völlig neue Gattungen und Genres, in denen Klangmaterial weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Zur Diskussion gestellt sei damit eine zentrale Problematik aktueller Musik im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts – zeitgenössische Musik am Scheideweg?

Um diese Frage genauer fassen zu können, sei ein Perspektivwechsel vorgeschlagen: Ausgangspunkt der Betrachtung sei nicht die Musik als eine gegebene Materialkonstellation, als Objekt also, das sich in seine Elemente auflöst und damit den Begriff Musik überflüssig macht. Betrachtet sei stattdessen das Ganze aus der Perspektive der gegenwärtigen kulturellen Situation.

Diese wird, was die ernste Musik betrifft, von mindestens drei Tendenzen bestimmt. Die hybridisierte und digitalisierte zeitgenössische Musik – die Avantgarde des 21. Jahrhunderts – findet keine ihr adäquaten Aufführungsräume mehr. Sie bleibt – wie die Avantgarde des 20. Jahrhunderts – peripher, nun aber selbst peripher innerhalb des Neue-Musik-Festivalbetriebs – oder sie verschwindet im Internet. Die mit der Avantgarde des 20. Jahrhunderts ausgebildeten Werte wiederum haben sich im öffentlichen Konzert- und Musikbetrieb wie auch in den öffentlichen Hörerwartungen nicht durchgesetzt. Vielmehr besteht die Gefahr, dass die experimentelle Musik des 20. Jahrhunderts zunehmend in Vergessenheit gerät. Und drittens: Die Konzertlandschaft wird nach wie vor von der klassischen Musik und einer gemäßigten Moderne beherrscht, deren ästhetische Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen.

Aufgrund dessen zeichnen sich für einen Scheideweg zwei Möglichkeiten ab: Erstens: Der Kunstraum Musik wird zu einem großen Museumsraum mit Opernhaus, Konzertsaal und anderen Aufführungsräumen als Ausstellungsorten. In diesem Museumsraum findet Musik als erneut avancierte, innovative Avantgarde keinen Platz mehr. Klang wandert ab in neue Kunstformate. Zweitens: Der Kunstraum Musik spaltet sich in einen Museumsraum und in einen Gegenwartsraum. Dieser Gegenwartsraum hat sich – ähnlich wie die Avantgarde im 20. Jahrhundert – neue Formate, Räume, Platzierungen, Interventionsmöglichkeiten erschlossen, in denen jegliche Hierarchien und Regeln der traditionellen konzertanten Praxis weder für die Musikproduktion noch für die Rezeption gelten. – Ist aber gerade in den letzten Jahren nicht doch noch ein dritter Weg sichtbar geworden? Eine Musik, gebildet aus den Resten avancierter Musikproduktion, ohne Film, ohne Bild, ohne Video, Performance, Lecture oder Internet? Eine Musik die auch in den Museumsquartieren die Kehrseite aufdeckt, stört und aufstört?

– Gisela Nauck

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