Perspektivwechsel

Eine Gesprächsreihe

14. Juni 2022 | Redaktion

Perspektivwechsel: Enno Poppe und Eberhard Kranemann
©Perspektivwechsel: Enno Poppe und Eberhard Kranemann / Ricordi

Bei dem Gesprächsformat »Perspektivwechsel« bringen wir Komponist*innen und Musiker*innen mit Persönlichkeiten aus anderen Genres, Sparten und Disziplinen zu einem übergreifenden Thema zusammen, das sie beide miteinander verbindet, um so Parallelen und Unterschiede in der Herangehensweise und der Auseinandersetzung bei der künstlerischen Arbeit sichtbar zu machen.

Perspektivwechsel # 1: Rebecca Saunders and Ed Atkins

Bei dem Künstlergespräch sprechen die Komponistin Rebecca Saunders und der Videokünstler Ed Atkins über die Verwendung von Stimme, Sprache, das gesprochene bzw. das gesungene Wort und Text in ihren künstlerischen Arbeiten. 

Rebecca Saunders (*1967, London) ist eine der führenden Komponistinnen der Gegenwart. Ihr besonderes Interesse gilt gilt der Beziehung von Klang und architektonischem Raum. Mit »Skin« (UA 2016 bei den Donaueschinger Musiktagen), als erstem Werk in einer Reihe von Kompositionen mit Sopran, intensivierte sie ihre Auseinandersetzung mit Text und der menschlichen Stimme als Instrument. Eine Arbeit, die sie mit ihrem neusten Werk für Sopran und »spatialised ensemble« nach dem Monolog der Molly Bloom aus »Ulysses« von James Joyce im Rahmen des Musikfest Berlin fortführte. 

Ed Atkins (* 1982, London) gilt als ambivalenter Vertreter einer Künstlergeneration, die fundamentale Veränderungen der (Selbst-) Wahrnehmung in Hinblick auf rasante Entwicklungen und zunehmende Allgegenwärtigkeit der digitalen Medien kritisch hinterfragt. Atkins ist insbesondere für seine großangelegten Videoarbeiten bekannt, die esoterische Monologe, Karaoke und groteske Soundscapes mit computergenerierten 3D-Animationen verbinden. Sein neues Projekt »Old Food« ist ab Ende September im Martin-Gropius-Bau der Berliner Festspiele im Rahmen von Immersion zu sehen. Eine Sammlung von Atkins Schriften »A Primer for Cadavers« wurde letztes Jahr bei Fitzcarraldo Editions veröffentlicht. 

Moderation: Bastian Zimmermann 
Das Künstlergespräch fand in Zusammenarbeit mit dem Musikfest Berlin der Berliner Festspiele statt.
10. September 2017, Philharmonie Berlin


Perspektivwechsel #3: Mona el Gammal und Yair Klartag

Der Komponist Yair Klartag und die Szenografin und Regisseurin Mona el Gammal sprachen bei dieser Ausgabe des »Perspektivwechsel« über den Begriff der Immersion in der Kunst. 

Immersive Kunstwerke haben längst Einzug in Museen und Theater gehalten. Durch bestimmte Gestaltungsmittel werden künstliche Räume geschaffen, die eine physische und psychische Einbindung der Rezipient*innen in das Werk ermöglichen. Erklingt Musik, sind die Hörer*innen in den Klang, den Schall eingehüllt. In seinem Werk beschäftigt sich Yair Klartag mit diesem immersiven Charakter der Musik, den er immer wieder zu brechen sucht, um den Zuhörer*innen die nötige Distanz zur kritischen Reflexion zu bieten. Mona el Gammal hingegen schafft Geschichten erzählende Raum-Soundinstallationen, in die das Publikum vollständig eintauchen kann. Dieses Eintauchen in die geschaffenen Parallelwelten ermöglicht den Rezipient*innen individuelle Erfahrungen und neue Erkenntnisse. In dem Gespräch werden Yair Klartag und Mona el Gammal ihre unterschiedlichen Ansätze diskutieren. 

Moderation: Lydia Rilling
In Kooperation mit dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD und Ultraschall Berlin. 
21. Januar 2028, Pierre Boulez Saal


Perspektivwechsel #4: Georges Aperghis und Yassin Al Haj Saleh

»Ich möchte nicht nur den ertrunkenen Körpern ein Gesicht geben, die an Europas Küsten angespült werden, sondern auch der großen Zahl der Lebenden, die ohne Identität durch Europa irren, ohne offiziell als lebendig anerkannt zu werden« Gerorges Aperghis

Mit seinem neuen Werk für zwei Stimmen und großes Ensemble »migrants« bringt Georges Aperghis die unsäglichen menschlichen Tragödien zur Sprache, die sich täglich in Europa und an seinen befestigten Küsten abspielen und betritt damit ein Terrain, an das sich nur wenige Komponist*innen wagen. Der Abend mit dem Ensemble Resonanz verbindet zwei Kompositionen, die sich dem Verschwinden und den Verschollenen in unserer Zeit widmen.

Im Anschluss an das Konzert sprachen der Komponist Georges Aperghis und der syrische Schriftsteller und Dissident Yassin Al Haj Saleh über den Umgang mit aktuellen Krisen in der Kunst. Es wird um die Frage gehen, ob zeitgenössische Musik eine angemessene Sprache finden kann, über Enteignung, Verschwinden, Tod zu reflektieren – während diese sich ereignen.

Moderation: Marcus Gammel
Das Künstlergespräch fand in Zusammenarbeit mit der MaerzMusik der Berliner Festspiele statt.
22. März 2018, Philharmonie Berlin

field notes / inm · Perspektivwechsel #4: Georges Aperghis und Yassin Al Haj Saleh

Perspektivwechsel #5: Neo Hülcker & Andreas Dzialocha/Y-E-S-Kollektiv, Annkathrin Kluss und Johanna Bruckner

In dieser Ausgabe des Perspektivwechsels ging es um die Wechselwirkung zwischen Produktion und Verbreitung künstlerischer Arbeiten in der digitalen respektive analogen Welt. Diese oft als Gegensätze empfundenen Sphären bieten gerade in ihrer Verschränkung Möglichkeiten für alternative und neue Darstellungs- und Handlungsformen. Zu dem Gespräch waren Neo Hücker und Andreas Dzialocha des Berliner Y-E-S-Kollektivs eingeladen sowie Annkathrin Kluss, Johanna Bruckner und Adam Harvey, die Arbeiten im Rahmen der Ausstellung »Nomadic Bodies« im EIGEN + ART Lab präsentierten.

Als Antwort auf den klassischen Verlag gründete das Y-E-S-Kollektiv der jüngsten Berliner Künstler*innengeneration letztes Jahr die Onlineplattform y-e-s.org für alternative Verbreitungs- und Darstellungsformen ihrer Werke. Hier können Partituren veröffentlicht werden, die über Notentext und reine Musik hinausgehen: Werke ohne feste Formvorgaben, Anleitungen zum Nachahmen oder Stücke, die als Spiele oder multimedial funktionieren. Zum einjährigen Bestehen wurden am 29. und 30. September aus »virtual« »reality« die ersten 12 auf y-e-s.org veröffentlichten Arbeiten zur Aufführung gebracht. Das Y-E-S-Fest ist ein Fest und kein traditionelles Showcase-Festival, bei dem der soziale Aspekt des Zusammenkommens und des Austausches im Vordergrund stehen.

Die Künstler*innen der Ausstellung »Nomadic Bodies« zeigten diskursive Perspektiven auf die menschliche Subjektivität sowie die derzeitige Beziehung zwischen dem Digitalen und dem menschlichen Körper. Ihre Arbeiten dokumentieren Formen des menschlichen Widerstandes, zwischen der totalen Ökonomisierung und der Präsenz des Internets. Johanna Bruckner zeigt in ihren Filmen und Videoinstallationen anhand von Performer*innen, dass wir in komplexen Kreisläufen aus Ökologie, Algorithmen, Technologie und vernetzter Realität gefangen sind. Annkathrin Kluss´ Arbeiten verhandeln Identitätskonstruktionen unter Einfluss von Digitalität, Technologie und Ökonomie sowie die daraus resultierende Selbstwahrnehmung und -darstellung. Adam Harvey untersucht die gesellschaftlichen Auswirkungen der vernetzten Datenanalyse mit Schwerpunkt auf Computer Vision, digitalen Bilderwelten und Anti-Überwachung.

Das Künstlergespräch fand in Zusammenarbeit mit EIGEN + ART Lab statt.
11. September 2018, EIGEN + ART Lab

Perspektivwechsel #6: Enno Poppe und Eberhard Kranemann

In der sechsten Ausgabe des Perspektivwechsels unterhielten sich Enno Poppe (Komponist) und Eberhard Kranemann (Musiker und Gründungsmitglied der Gruppen Kraftwerk, Pissoff und Neu!) über die besondere Zeitlichkeit in der elektronischen Musik. 

Elektronische Musik entsteht im Gleichschritt mit den rasanten technologischen Entwicklungen ihrer Instrumente. So profitiert sie von den immer neuen Errungenschaften der Technik, ist aber gleichzeitig auch ihrer Kurzlebigkeit unterworfen, sodass einige ihrer Werke allzu schnell in Vergessenheit geraten. Oft können ältere Werke nicht aufgeführt werden, da das entsprechende Instrumentarium nicht mehr gebaut wird, nicht mehr funktioniert oder aber schlicht das Wissen über seine Funktionsweisen fehlt. 

Vor dem Gespräch wurde Enno Poppes neues Werk »Rundfunk« durch das ensemble mosaik aufgeführt. Das Ensemble tauschte dafür seine gewohnten Instrumente gegen Computer und Keyboards ein, mit denen es historisches Synthesizerklänge der 60er- und 70er-Jahre rekonstruierte und rekombinierte. So erinnerte das Stück klanglich, aber auch durch die orangefarbenen Hemden der neun Interpret*innen an die Pioniere der elektronischen Musik Kraftwerk. 

Eberhard Kranemann beeinflusste als Gründungsmitglied von Kraftwerk, Pissoff und Neu! die elektronische Musik grundlegend. Er studierte Musik und Kunst, wandte sich aber bald von klassischen Formen ab und experimentierte mit Farben oder Klängen. Derzeit arbeitet er zusammen mit Harald Grosskopf als Duo namens Krautwerk an ihrem zweiten Album.

Moderation: Leonie Reineke
In Kooperation mit Ultraschall Berlin. 
20. Januar 2019, Volksbühne


Perspektivwechsel #7: Olga Neuwirth und Thorleifur Örn Arnarsson

In dieser Ausgabe der Gesprächsreihe »Perspektivwechsel« unterhielten sich die Komponistin Olga Neuwirth und der Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson. Beide verbindet die Beschäftigung mit historischem Material als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung und Sichtbarmachung gesellschaftlicher Strukturen der Gegenwart. 

Olga Neuwirth überschreitet u.a. mit dem Einsatz von Zitaten aus verschiedenen Perioden der Musikgeschichte, Film, Literatur und bildender Kunst die von der Moderne vorgegebenen Grenzen sowie die Einheit zwischen Diskontinuität und Kontinuität, und fordert durch diese »fluid modernity« das Publikum heraus, eigene Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Beispielhaft hierfür gilt ihre Hommage an Klaus Nomi, ihr groß angelegtes Raum-Musikwerk »Encantadas« mit der eingefangen Akustik der venezianischen Kirche San Lorenzo als »akustische Denkmalpflege«, die plastische Collage aus musikalischen Erinnerungen in »Masaot/Clocks without Hands« (2013/15), die Musik zu »Die Stadt ohne Juden«, einem lang verschollener Stummfilm aus 1924 oder in ihrer Adaption von Virginia Woolfs »Orlando«, der Oper, die im Dezember 2019 ihre Premiere an der Wiener Staatsoper hat. Dieses Jahr gibt es beim Musikfest Berlin einen Fokus auf die Komponistin Olga Neuwirth: Am 4. September führt das Ensemble Modern »locus...doublure...solus« (2001) im Kontext von Werken der Komponisten Edgar Varèse und Louis Andriessen auf. Am 5. September spielt der Trompeter Håkan Hardenberger ihr Trompetenkonzert »... miramondo multiplo...« zusammen mit dem BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Sakari Oramo. Schließlich führt am 18. September das Ensemble der Karajan-Akademie unter der Leitung von Susanna Mälkki das außergewöhnlich besetzte Stück »Aello – ballet mécanomorphe« (2017) mit Emmanuel Pahud als Solisten auf. 

Das Theater von Thorleifur Örn Arnarsson steht für neue Weltentwürfe in seiner Auseinandersetzung mit Klassikern der Dramenliteratur und Stoffen der mythischen Sagenwelten. Zu seinen Regiearbeiten gehören Stücke von Shakespeare und Ibsen wie »Hamlet«, »Macbeth«, »Die Wildente« und »Peer Gynt«, aber auch mythische Erzählungen – »Njála« oder »Edda«. Außerdem inszenierte er zahlreiche Opern. Als neuer Schauspieldirektor an der Volksbühne Berlin erzählte er mit »Eine Odyssee« nach Homers Epos mit Mikael Torfason neu und eröffnete mit dieser Inszenierung am 12. September 2019 die neue Spielzeit. In der gemeinsamen Arbeit mit dem Autor Mikael Torfason adaptierte Arnarsson die Konflikte und Abgründe ins Zentrum der Gegenwart und lud sie mit virulenten gesellschaftspolitischen Parallelen auf. 

Moderation: Sascha Ehlert, Gründer und Herausgeber der Zeitschrift DAS WETTER 
Präsentiert von field notes und dem Musikfest Berli.
4. September 2019, Roter Salon / Volksbühne Berlin


Perspektivwechsel #8: Sarah Nemtsov und Helgard Haug

In dieser Ausgabe der Gesprächsreihe Perspektivwechsel unterhielten sich die Komponistin Sarah Nemtsov und die Autorin und Regisseurin Helgard Haug des Kollektivs Rimini Protokoll. Beide verbindet die Thematisierung und die offene Ansprache des häufig tabuisierten Themas Tod, das viel zu oft allein im Privaten verhandelt wird. 

In ihrer eigenwilligen Musiksprache nimmt Sarah Nemtsov häufig Bezug auf außermusikalische Inhalte, darunter existentielle Fragen des Daseins. Ihre Reflexionen über Endlichkeit, Schmerz und Tod umschließen immer auch Liebe, Trost und die Schönheit des Alters. Demgemäß rückte sie in »Light by Light« mit dem Ensemble Decoder das Licht ins Zentrum der Arbeit über das Sterben. Die politische Dimension verhandelte sie in ihrer Oper »Sacrifice«, bei der zwei Mädchen aus der Mitte der Gesellschaft nach Syrien aufbrechen, um dort in den Dschihad zu ziehen. In einem ihrer bei Ultraschall Berlin präsentierten Werke »dropped.drowned« geht es um den Übergang zweier Zustände. 

Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel gründeten 2000 das Theater-Label Rimini Protokoll. Stück für Stück erweitern sie die Mittel des Theaters, um neue Perspektiven auf die Wirklichkeit zu schaffen. Rimini Protokoll entwickeln ihre Bühnenstücke, Interventionen, szenischen Installationen und Hörspiele oft mit Expertinnen, die ihr Wissen und Können jenseits des Theaters erprobt haben. Mit den Stücken »Nachlass« und »Deadline« haben sie sich intensiv mit dem Tod und unserem Umgang mit ihm auseinandergesetzt. Mit ihrem realistischen Ansatz holen sie Expertinnen wie einen Bestatter, eine Pflegerin und einen Grabsteinmetz auf die Bühne und damit den Tod zurück ins Leben. 

Moderation: Leonie Reineke 
Präsentiert von field notes und Ultraschall Berlin
19. Januar 2020, Akademie der Künste 


Mit Dank an Susanne Elgeti für die Videodokumentationen.