Zeitgenössische Musik in Deutschland
Ein Übersichtstext von field notes Berlin
13. April 2023 | Lisa Benjes
13. April 2023 | Lisa Benjes
Die Infrastruktur der zeitgenössischen Musik in Deutschland ist in ihrer Komplexität und Vielfalt bemerkenswert. Der Kulturföderalismus mit seiner dezentralen Förderstruktur trägt zu einem breit gefächerten Spektrum von großen internationalen Veranstaltungen in den Ballungszentren bis hin zu kleinen Workshops lokaler Initiativen im ländlichen Raum bei.
Dies mag auch daran liegen, dass zeitgenössische Musik weder ein klar definiertes Konzept ist, noch auf ein genau abgegrenztes ästhetisches Terrain verweist. Vielmehr scheint sich der Begriff gerade durch seine Durchlässigkeit und Wandlungsfähigkeit zu charakterisieren. Nicht zuletzt die Vielzahl der zum Teil synonym verwendeten Begriffe zeigt, wie weit das Feld ist: Zeitgenössische Musik, Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, moderne klassische Musik, Musik unserer Zeit, Avantgardemusik, Neue Musik oder neue Musik – um nur einige zu nennen – umfassen Subgenres wie neu komponierte Kammer- oder Orchestermusik, Klangkunst, Musiktheater und Oper, elektronische und elektroakustische Musik, improvisierte Musik oder Echzeitmusik. Die Szene ist zunehmend inklusiv geworden: Sie unternimmt musikalische und intermediale Grenzgänge, sucht die Nähe zu anderen Genres und Kunstsparten, setzt sich mit neuen Ansätzen transtraditioneller Musik auseinander und entzieht sich schließlich der Unterscheidung zwischen E- und U-Musik (Fricke 2018).
Der Löwenanteil der zeitgenössischen Musiklandschaft in Deutschland setzt sich aus verschiedenen Akteuren der freien Szene zusammen. Die freie Musikszene entstand ab den 1970er Jahren nach und nach und fühlte sich besonders der Alten und/oder Neuen Musik verpflichtet (Flender).
Konzerthäuser, Orchester, Opernhäuser einschließlich ihrer Infrastruktur und ihres Personals sind längst nicht mehr die Trägerstruktur der neuen oder zeitgenössischen Musik. Vielmehr sind es die freien Ensembles und Konzertveranstalter*innen mit ihrer komplexen Basisstruktur und ihrem Netzwerk aus unterschiedlichsten Veranstaltungen, Spielstätten und Förderern, die sich zum Nährboden der zeitgenössischen Musikkultur im 21. Jahrhundert entwickelt haben und stetig wachsen. Als eigentliche Innovationskraft des 20. und 21. Jahrhunderts hat sie dem bürgerlichen Modell der Musikkultur ein zeitgemäßes Modell zur Seite gestellt, dessen charakteristische Flexibilität, Kreativität und Offenheit den etablierten Einrichtungen mit dem Stempel des Musealen versehen haben (Nauck 2016). Die Szene verharrt nicht in einem Status quo, sondern treibt das Genre stets voran, indem sie sich experimentell und risikofreudig mit der Bedeutung und den Möglichkeiten von Kunstmusik heute auseinandersetzt. Sie greift Themen des gesellschaftlichen Wandels auf und stößt in ihren eigenen Strukturen und in der Gesellschaft transformative Prozesse zu Diversität, Nachhaltigkeit oder Digitalisierung an - lange bevor Institutionen oder etablierte Konzerthäuser diese Themen überhaupt auf dem Radar haben.
Zur freien Szene gehören professionelle Ensembles, Orchester, Festivals, Konzertveranstalter*innen, Vereine etc., die autonom, selbstbestimmt und unabhängig von Trägerstrukturen (Koalition der Freien Szene 2023) auf der Grundlage bestimmter Ziele, Überzeugungen und Visionen Veranstaltungen schaffen – oft in Abgrenzung zu den als überholt empfundenen Arbeitsweisen und programmatischen Ausrichtungen der etablierten Szene (Martin Rempe 2019).
Die vermeintliche Freiheit der Organisationen der freien Szene hat einen hohen Preis. Ihr Finanzierungsmodell ist oft fragil. Ohne institutionelle Förderung oder andere Einnahmequellen, die längere Planungshorizonte erlauben, tragen sie ihre finanziellen Risiken aus eigener Kraft. Ihr Jahresbudget setzt sich zusammen aus zeitlich begrenzten und auf konkrete Einzelprojekte bezogenen Projektförderungen, Ticketverkäufen aus eigenen Veranstaltungen sowie Konzertengagements. In seltenen Fällen können die freien Träger auf knappe Struktur- oder Grundfinanzierungen zurückgreifen. Aufbau eines zuwendungsrechtlichen, gemeinnützigen und gesellschaftsrechtlichen Kontextes (DRO e.V. 2023). Die Akquise von Projektförderungen gehört somit zum Kerngeschäft der Akteure der Freien Szene. Die Notwendigkeit, immer wieder neue Ideen und Konzepte für Projektanträge zu entwickeln, ist nicht nur anstrengend, sondern steht auch einer nachhaltigen und dauerhaften künstlerischen Entwicklung entgegen.
Die Mehrzahl der internationalen Spitzenensembles und -orchester im Bereich der zeitgenössischen Musik aus Deutschland ist Teil der freien Szene (FREO e.V. 2023). Weit über 90 % der deutschen Uraufführungen zeitgenössischer Musik werden von freien spezialisierten Ensembles aufgeführt.
Eine wichtige Triebfeder sind die vielen freien Ensembles, die sich auf das Repertoire des 20. und 21. Jahrhunderts spezialisiert haben. Mittlerweile gibt es Hunderte von freien Ensembles und Orchestern unterschiedlicher Größe, mit variabler Besetzung und jeweils eigenem Repertoireschwerpunkt. Allein in Berlin gibt es mehr als 40 Ensembles für zeitgenössische Musik (Schick und Lorber 2018). Die Formationen wechseln allerdings so oft und sind in ihrer Zusammensetzung so fließend und dynamisch, dass sie nur schwer zu zählen sind. Entsprechend variieren die Angaben zur Anzahl der Ensembles. Allein das Musikinformationszentrum zählt in seiner Datenbank 178 auf Neue Musik spezialisierte Ensembles in Deutschland (miz.org 2023).
Sicher ist jedoch, dass sie eine unverzichtbare und vorbildliche Rolle im Konzertleben spielen, indem sie seltene Werke aufführen und neue uraufführen, eng mit lebenden Komponist*innenen zusammenarbeiten, neue Spieltechniken professionalisieren und vermitteln und im Zusammenspiel mit anderen Genres, Medien oder anderen Kunstsparten mit ungewöhnlichen Formaten experimentieren (Forster 2023). Sie veranstalten eigene Konzerte, Reihen und Festivals und engagieren sich häufig im Bereich der Kinder- und Jugendbildung. Für die meisten von ihnen hat die Förderung junger Komponist*innenen und die Professionalisierung des musikalischen Nachwuchses eine hohe Priorität (Martin Rempe 2019).
Die Musiker*innen sind Gesellschafter ihres eigenen Ensembles oder Orchesters. Im Gegensatz zu angestellten Musiker*innen in tarifvertraglich geregelten Orchestern zeichnen sich unabhängige Formationen durch die unternehmerische Verantwortung und Beteiligung der Musiker an der künstlerischen Leitung und strategischen Planung aus. Das unternehmerische und oft basisdemokratische Organisationsmodell freier Ensembles ermöglicht das kreative und energetische Potenzial der Musiker und fördert Motivation, Leistung, Qualität, Kreativität und Flexibilität (Martin Rempe 2019).
Nicht selten nehmen sie die Rechtsform einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts (GbR) an. Dies ist eine äußerst praktische Form, die wenig formale Anforderungen stellt und kostengünstig sowie bürokratisch einfach zu handhaben ist. Es gibt aber auch künstlerische Überlegungen, denn jeder Gesellschafter hat weitreichende Mitbestimmungsrechte. Andererseits birgt diese Rechtsform auch Gefahren, denn die Gesellschafter haften persönlich für die Gesamtverschuldung der Gesellschaft. Gesellschafter eines Ensembles können entweder alle Mitglieder oder einige der führenden Musiker*innen sein (miz.org 2023). Im Jahr 2016 wurde der FREO e.V. als gemeinnütziger Verein gegründet, um die Interessen professioneller Ensembles und Orchester zu vertreten, die von freiberuflichen Musiker*innen getragen werden.
Neben den Ensembles gibt es in fast jeder Stadt in Deutschland auch kleinere Festivals und Konzertreihen. Viele von ihnen leben vom unermüdlichen Engagement ihrer Organisatoren und dem kreativen Umgang mit den oft knappen Budgets (Gottstein 2009).
Die Bandbreite reicht von Heroines of Sound in Berlin, einem Festival, das Pionierinnen der elektronischen Musik in den Mittelpunkt stellt und mit dem Gastspielhaus HAU, Hebbel am Ufer, zusammenarbeitet, über das Festival für Immaterielle Kunst in Hamburg, das die Schnittmenge von Musik und Performance in den Mittelpunkt stellt (Kooperation mit der Elbphilarmonie), bis hin zu Frequenz Frequenz Kiel, das die Szenen Deutschlands und der nordischen Länder miteinander verbindet. Viele weitere Beispiele dieser Art finden sich in ganz Deutschland.
Es gibt auch eine wachsende Zahl von Dachfestivals, die verschiedene Aktivitäten der freien Szene präsentieren, wie der Monat der zeitgenössischen Musik in Berlin, die Berliner Biennale für Musiktheater BAM! Festival, Spark - Musiktheater in Köln oder blurred edges für zeitgenössische und experimentelle Musik in Hamburg. Durch den gemeinsamen Rahmen kann ein breites Spektrum an Aktivitäten präsentiert und einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt werden.
Unabhängige Konzertreihen wie die Unerhörte Musik, Kontraklang, biegungen im ausland bilden oft das Rückgrat der Szene, da sie regelmäßige Auftrittsmöglichkeiten für unabhängige Künstler*innen und Gruppen bieten.
Gewissermaßen als Mischform gibt es Gastspielhäuser. Sie bieten eine professionelle Infrastruktur für die Produktion und Präsentation von Veranstaltungen internationaler und nationaler Gastspiele / Produktionen. Sie erhalten in der Regel eine institutionelle Förderung durch die Bundesländer. Diese Mittel sind jedoch grundsätzlich ausschließlich für die Infrastruktur und nicht für das künstlerische Programm bestimmt. Ausnahmen gelten für Koproduktionen. Alle anderen Gastspiele / Produktionen bringen ihre eigenen Mittel mit.
Diese Räume spielen im Bereich der freien Szene eine zunehmend wichtige Rolle, da sie eine professionelle Infrastruktur für die Produktion und Präsentation von Veranstaltungen bieten.
In Deutschland gibt es kein einziges Konzerthaus, das sich ausschließlich zeitgenössischer Musikkultur widmet. In den öffentlich finanzierten Sinfonieorchestern findet Neue und Zeitgenössische Musik eher als kurze Intermezzos zwischen »leichter verdaulichem Repertoire« oder sogar gänzlich isoliert vom übrigen Programm in speziellen Konzertreihen oder Festivals statt.
Von den 83 öffentlich geförderten Opernhäusern in Deutschland integrieren einige wenige eigene Produktionen, neue Auftragswerke oder die Entwicklung eigenständiger Formate und Wettbewerbe in ihr Programm (z. B. die Deutsche Oper in Berlin) (Fricke 2018).
In Berlin gibt es zwei Festivals, die von Institutionen durchgeführt werden und daher von einer institutionellen Finanzierungsstruktur und einem Planungshorizont profitieren: Die MaerzMusik und das Musikfest. MaerzMusik ist der zeitgenössischen Musik und genreübergreifenden Experimenten verpflichtet, während das Musikfest die klassische und moderne Musik in den Vordergrund stellt. Beide finden unter dem Dach der Berliner Festspiele statt, einer Institution, die eine Vielzahl von Festivals, Ausstellungen und Einzelveranstaltungen unter einem gemeinsamen Dach vereint.
Auch die sächsische Hauptstadt finanziert seit 1987 ein eigenes Festival. Die Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik werden vom Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik durchgeführt, das heute Teil des Europäischen Kulturzentrums in Hellerau ist. Die Münchener Biennale, 1988 auf Initiative von Hans Werner Henze gegründet, konzentriert sich ganz auf zeitgenössisches Musiktheater und Oper. Die Biennale ist trägerunabhängig und wird vom Referat für Kunst und Kultur/Stadt München unterstützt. Das ACHT BRÜCKEN Festival in Köln ist der Nachfolger der Kölner Musiktriennale und präsentiert gemischte Programme mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Musik. Musik der Jahrhunderte (MDJ), 1978 gegründet, ist heute einer der wichtigsten internationalen Veranstalter und Produzenten zeitgenössischer Musik in Europa und veranstaltet seit 1980 jährlich das ECLAT Festival Neue Musik Stuttgart. Das Festival verfolgt einen spartenübergreifenden Ansatz für zeitgenössische Musik und schenkt insbesondere der jungen Generation aufstrebender Künstler*innen Gehör.
Die Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der zeitgenössischen Musiklandschaft in Deutschland darf nicht unterschätzt werden. Nahezu jeder Sender hat eine eigene Abteilung für Neue Musik. Sie verfolgen einen Kultur- und Bildungsauftrag und bieten mehrmals wöchentlich ein breites Spektrum an Informationen zur zeitgenössischen Musik. Einige der Abteilungen für zeitgenössische Musik der Sender haben eigene Sendereihen entwickelt und ins Leben gerufen, die programmatische und pädagogische Standards für die Verbreitung zeitgenössischer Musik setzen und ein beeindruckend großes und vielfältiges Publikum erreichen (Fricke 2018).
Die meisten Sender verfügen über eigene musikalische Formationen (Orchester, Chöre, teilweise auch Big Bands), von denen sich einige der Musik unserer Zeit verschrieben haben, wie z.B. das SWR-Symphonieorchester, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, das BR-Symphonieorchester u.a. (Fricke 2018).
Seit 1971 betreibt der Südwestdeutsche Rundfunk (SWR) in Freiburg ein eigenes Experimentalstudio. Neben der Erforschung neuer musikalischer Verfahren und der Produktion musikalischer Werke ist auch die Aufführung von Werken ein wichtiger Aufgabenbereich des Experimentalstudios.
Viele der Rundfunkanstalten veranstalten die mitunter wichtigsten und traditionsreichsten Festivals.
Die jährlich stattfindenden Donaueschinger Musiktage ist nicht nur das älteste Festival für zeitgenössische Musik, sondern gehört auch zu den renommiertesten der Welt. Es wird vom SWR veranstaltet und wurde 1921 gegründet. Die Wittener Tage für neue Kammermusik wurden 1969 unter der Schirmherrschaft des Westdeutschen Rundfunks (WDR) gegründet. cresc..., ein seit 2011 alle zwei Jahre stattfindendes Festival für moderne Musik im Rhein-Main-Gebiet, wird vom Ensemble Modern und dem hr-Sinfonieorchester gemeinsam mit weiteren Partnern aus der Region veranstaltet. Der Bayerische Rundfunk (BR) unterhält eine Konzertreihe Musica Viva (seit 1948) und der Westdeutsche Rundfunk (WDR) Musik der Zeit (seit 1951), in denen jeweils neue Auftragswerke uraufgeführt werden. (Fricke 2018).
Das Ultraschall Festival in Berlin wird seit 1998 gemeinsam von Deutschlandfunk Kultur und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) veranstaltet (Fricke 2018) und ist eines der großen Festivals der Hauptstadt, das in der Regel im Haus des Rundfunks und an anderen Orten in der Stadt stattfindet.
Die 1922 gegründete deutsche Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (ISCM) - die Gesellschaft für Neue Musik (GNM) - ist der älteste und größte Dachverband für alle an zeitgenössischer Musik interessierten Personen und Gruppen in Deutschland. In verschiedenen Städten und Regionen hat die GNM so genannte Regionalgruppen, die sich für die Förderung zeitgenössischer Musik in Konzerten und diskursiven Formaten einsetzen. Die Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik (DEGEM) versammelt Mitglieder aus dem Bereich der elektronischen und elektroakustischen Musik (Fricke 2018).
Es gibt viele lokal oder regional tätige Verbände, andere, wie die GNM, sind zumeist bundesweit oder international tätig. Ihre Tätigkeitsbereiche sind sehr unterschiedlich. Einige sind kulturpolitisch aktiv (FREO), andere konzentrieren sich auf die Durchführung von Konzerten und die Entwicklung von diskursiven Formaten oder Publikationen (bgnm, ZMB), wieder andere finanzieren und fördern zeitgenössische Musik in ihren Regionen (inm).
Alles in allem ist die Zahl der Vereine und Initiativen, die sich in Deutschland mit zeitgenössischer Musik beschäftigen, zwar sehr groß und auf viele Städte und Regionen verteilt (Fricke 2018), aber es mangelt an einer übergreifenden Organisation und Vernetzung der einzelnen Initiativen.
Die öffentliche Kulturförderung bietet finanzielle Unterstützung für gemeinnützige, nicht-kommerzielle, künstlerische und/oder kulturelle Projekte. Die Freiheit der Kunst gilt in Deutschland als hohes Gut und ist im Grundgesetz verankert: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei" (Art. 5 Absatz 3 GG).
Anders als in vielen anderen Ländern ist die Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland in erster Linie eine Angelegenheit der Länder und Kommunen (Kulturhoheit der Länder). Der deutsche Föderalismus spiegelt sich somit auch in der Kulturförderung wider, die zu einer breiten künstlerischen und kulturellen Infrastruktur in allen Regionen Deutschlands beitragen soll. Die öffentliche Kulturförderung ist eines der wenigen Politikfelder, das von den jeweiligen Ebenen der Kommunen, Länder und des Bundes weitgehend souverän und nach eigenen Zielsetzungen gestaltet werden kann (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages 2006)
Die Zuständigkeit für die Förderung der Kultur ist in den jeweiligen Landesverfassungen verankert. In Berlin heißt es zum Beispiel in Artikel 20: §Das Land schützt und fördert das kulturelle Leben.« Aus rechtlicher Sicht ergibt sich daraus jedoch keine Verpflichtung zur Kulturförderung. Es handelt sich mangels Konkretisierung lediglich um eine freiwillige Aufgabe. Deshalb gibt es in NRW bereits ein Kulturfördergesetz und in Berlin setzt sich der Landesmusikrat für ein solches ein.
Die Kulturförderung des Bundes konzentriert sich auf Maßnahmen von nationaler und internationaler Bedeutung. Mit rund 2,3 Milliarden Euro übernimmt der Bund 17 Prozent der Gesamtausgaben für Kunst und Kultur. In Deutschland gibt es kein Kulturministerium, sondern einen Beauftragten für Kultur und Medien, dessen Aufgabenbereich weit gefasst ist:
Üblicherweise wird zwischen Künstler*innen- und Projektförderung einerseits und institutioneller Förderung andererseits unterschieden. Die freie Szene greift auf die Projektförderung zurück, mit der einmalige künstlerische Vorhaben unterstützt werden. Um den freien Projekten eine gewisse Planungssicherheit zu geben, gibt es auch die Struktur- oder Basisförderung und die Spielstättenförderung, die die strukturelle Entwicklung etablierterer Organisationen der freien Szene unterstützen. Die institutionelle Förderung richtet sich an langfristig angelegte, staatsnahe Einrichtungen und umfasst die Infrastruktur oder laufende Aktivitäten (z.B. Museen, Theater, Vereine, Stiftungen) (Kulturstiftung des Bundes 2023).
In der öffentlichen Wahrnehmung ist die freie Szene noch weit davon entfernt, den ihr gebührenden Stellenwert zu erhalten. Sie wird von vielen als unprofessionelles Beiwerk zu den großen Institutionen oder etablierten Festivals gesehen, was sich häufig in der ungleichen Verteilung der Fördermittel zwischen Institutionen und freier Szene widerspiegelt.
So unterstützt die Senatsverwaltung für Kultur und Europa in Berlin die Kulturlandschaft mit rund 600 Millionen Euro pro Jahr (ab 2020). Etwa 95 % des Budgets gehen an die mehr als 70 dauerhaft institutionell geförderten Kultureinrichtungen und nur etwa 5 % an Akteure und Organisationen der freien Szene durch Einzel- und Projektförderung (einschließlich des Hauptstadtkulturfonds) (Senatsverwaltung für Kultur und Europa 2023).
Bei der Darstellung der Strukturen der zeitgenössischen Musikszene in Deutschland wird deutlich, dass im Bereich der Musik von heute die freie Szene eine besonders wichtige Stellung einnimmt. Im Gegensatz zu anderen Kunstformen wie dem Theater oder anderen Genres wie der klassischen Musik ist der Anteil der Institutionen an neuen Produktionen und Impulsen im Bereich der zeitgenössischen Musik verschwindend gering. Eine wichtigere Rolle bei der Verbreitung und Präsentation spielen dagegen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die sich im Rahmen ihres Kulturauftrags der zeitgenössischen Musik verschrieben haben. Entsprechend dem enormen Gewicht der freien Szene haben auch die Förderinstitutionen als deren Pendant einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Produktion zeitgenössischer Musik.
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