Bericht: »Time to Listen« 2023

Sessions

Performance Time to Listen 2023
©Stefanie Kulisch

Von Thaddeus Herrmann und Katharina Ortmann

Im Rahmen der Konferenz »Time To Listen 2023« luden Künstler*innen, Musiker*innen und Forscher*innen am 20. August dazu ein, das Verhältnis von Klang und Ökologie zu reflektieren. Die insgesamt acht Sessions umfassten Präsentationen, offene Gesprächsrunden, Workshops, Listening Sessions und Vorträge. Aus über 40 Einsendungen wurden diese Session gemeinsam mit einer Fachjury ausgewählt, bestehend aus Marina Cyrino, Katharina Rosenberger und Fabien Levy.

Der zweite Tag von »Time To Listen 2023« stand ganz im Zeichen des Open-Space-Formats, in dem Künstler*innen, Aktivist*innen und Musiker*innen ihren ganz eigenen kreativen Umgang mit dem Thema Nachhaltigkeit in der zeitgenössischen Musik präsentierten und mit den Teilnehmenden diskutierten. »Kreativ« war dabei in allen Sessions vor allem als »konkret« zu verstehen. Zwischen klangästhetischen Auseinandersetzungen, konkreten geo- und klimapolitischen Ansätzen und neuen Ideen für die Nutzung natürlicher Lebensräume für die Kunst wurden nicht nur Projekte und Arbeiten aus aller Welt vorgestellt, sondern auch das weitläufige und architektonisch einzigartige Gebäude der Akademie der Künste im Berliner Hansaviertel als Spielwiese für Interventionen genutzt.

Den Tag eröffneten Katharina Ortmann von inm / field notes und die Moderatorin Sophie Diesselhorst mit einem kurzen Überblick zu Programm und Zeitplan. Die Themen der Workshops und Sessions dieses Symposium-Tages wurden aus insgesamt 40 Einreichungen eines »Open Calls« zusammengestellt, den field notes berlin und die Akademie der Künste ausgerufen hatten. Danach begann das Programm, und die Teilnehmenden entschieden sich, an welchen Sessions – von denen immer zwei parallel stattfanden – sie partizipieren wollten.

Gilles Aubry – »Sawt, Bodies, Species – Ökologische Stimmen und artenübergreifende Performance«

Die Arbeiten, Installationen und Texte des Schweizer Wissenschaftlers Gilles Aubry drehen sich seit jeher um die Interdependenzen zwischen Klang, Technologie und Umwelt(stimmen) vor dem Hintergrund machtpolitischer Gegebenheiten und des Kolonialismus. Für »Time To Listen« nahm Aubry seine Aufenthalte in Marokko in den Fokus, die er in Videos dokumentiert hat. Diverse Projekte hat er vor Ort mit Künstler*innen und Wissenschaftler*innen durchgeführt. Im Zentrum seines Workshops stand das Video »Stonesound«, das Aubry 2019 in Zusammenarbeit mit dem Künstler Abdeljalil Saouli realisierte. »Stonesound« ist eine akustische Erkundung der felsigen Umgebung von Moulay Bouchta, einem Dorf in der Region Jballa im Norden Marokkos. Das Video ist das Ergebnis eines gemeinsamen Experiments zum Klang von Steinen, sowohl im Sinne der Erforschung der Akustik von Steinen als auch der Untersuchung von Grenzen des noch nicht Bekannten. Saouli kehrte nach seinem Studium in sein Heimatdorf zurück und ist dabei, eine »Library Of Stones« aufzubauen, um ihre unterschiedlichen Eigenschaften zu dokumentieren: Form, Textur, Farbe und nicht zuletzt Klang insbesondere Klang, der entsteht, wenn Steine auf andere Steine treffen. Der Sound der Steine ist für Saouli Ausdruck der Schwerkraft.

Aus den Erfahrungen und Statements Saoulis erwuchsen für Aubry diverse Fragen zum generellen Umgang mit Sound. Was bedeuten Sounds, welche Rolle spielen sie im Leben, was können wir von ihnen lernen? Dabei spielt das arabische Wort für Klang – »Sawt« – eine entscheidende Rolle. Denn Sawt bedeutet nicht nur Klang, sondern auch Stimme, deutet also auf den Körper, die Rezeption von Klang in uns. Antworten hat Aubry nicht, sondern möchte sie gemeinsam mit den Teilnehmenden finden – auf der Suche nach neuen kompositorischen Ansätzen, die die enge Verbundenheit von Mensch und Natur thematisieren. Denn: Laut Saouli sind Steine keine toten Objekte, sondern lebendig.

Anknüpfend an dieses Statement wurden diverse Aspekte diskutiert, z.B.:

  • Ist es problematisch, sich den Klang von Objekten zu eigen zu machen? Der Sound der Steine muss aktiv vom Menschen ausgelöst werden. Welche Rolle spielen Hierarchien und Dominanzen im Hinblick auf den Prozess künstlerischer Erkundung im Bereich field recording?
  • Ist es zu rechtfertigen aus ökologischer Sicht und/oder künstlerischer Sicht, wenn Künstler*innen weite Reisen unternehmen, um zu forschen, field recordings aufzunehmen etc?
  • Gibt es aus dieser Perspektive neue Möglichkeiten, wie man Sound »auf die Reise schicken«, also anders dokumentieren kann?

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Halim Sbai – »Joudour Sahara Music Program«

Halim Sbai ist Direktor und Mitbegründer des »Joudour Sahara Music Program«, einer INGO, die mit der Playing For Change Foundation ins Leben gerufen wurde. Er war Mitbegründer des renommierten Musikfestivals Taragalte, fungierte von 2009 bis 2018 als Direktor und gründete das Zamane Festival First Edition 2022. Halim Sbai ist zudem Mitinitiator der Transsahara-Kulturkarawane des Friedens, um Solidarität zwischen Marokkanern, Maliern und Mauretaniern aufzubauen.
In seinem Open Space stellte er die Arbeit des »Joudour Sahara Music Program« vor. Susi Ibarra präsentierte das Programm bereits im Rahmen der Konferenz »Time to Listen 2022«, in diesem Jahr war Halim Sbai selbst als Gesprächspartner und Inputgeber zu Gast.

Die Situation im Süden Marokkos ist dramatisch: Rund 2/3 aller Oasen sind bereits desertifiziert. Sbai selbst wuchs in einer solchen Oase auf und hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieser ökologischen Katastrophe etwas entgegenzusetzen. Denn natürlich haben die lokalen Gegebenheiten globale Konsequenzen: Je unbewohnbarer die Region wird, desto mehr Menschen müssen ihre Heimat verlassen. Es geht um Migration. Im Fall von Marokko findet diese noch schleichend statt. Erst aus den Oasen in die Städte und schließlich in andere Länder. Das Globale bzw. Regionale spielt auch für Sbais Arbeit eine Rolle: zehn Länder sind Anrainer der Sahara. Angelehnt an die Tradition der Karawanen arbeitet Sbai über Ländergrenzen hinweg.

Seine Idee ist die Wiederaufforstung der Oasen gemeinsam mit der verbliebenden Bevölkerung einerseits, und Bewusstsein für die Krise zu schärfen andererseits. Diese Krise ist nur anteilig hausgemacht, sie fußt auf der Wassernutzung globaler Konzerne für den Anbau von Obst und Gemüse im Land.

Das »Joudour Sahara Music Program« in der Kleinstadt M'hamid el Ghizlane im Südosten Marokkos ist der einzige Zugang für Jugendliche vor Ort, um sich kreativ auszudrücken. »Joudour Sahara« konzentriert sich auf traditionelle Musik und Tanz diverser ethnischer Gruppen, die sich vor Jahrhunderten aus verschiedenen Bereichen der Sahara in der Oase M'hamid niedergelassen haben. Das Programm bindet auch Jugendliche durch Musik, Tanz und Gemeinschaftsveranstaltungen ein.

In seinem Open Space dokumentiert und beschreibt Sbai seine Arbeit dezidiert nicht als politischen Aktivismus – er hat sich für Musik als Hebel entschieden: Mit Workshop- und Musikschul-Angeboten sensibilisiert er junge Menschen für die Situation. Es werden Instrumente gelernt, Songs geschrieben und das Thema kreativ verarbeitet. Dabei steht die traditionelle Musik der Region im Mittelpunkt. Ahidous, Gnawa, Rokba, Akalal und Chamra sind Musik- und Tanzstile, mit denen das Thema Wasserknappheit verarbeitet wird, von der Komposition bis zur Aufführung. Immer im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht die Frage: Wie können die Oasen wieder zum Leben erweckt und renaturiert werden? Zahlreiche Projekte, die Sbai initiiert hat, beweisen: Es geht. Die Wüste kann leben.

Mit Fotos und Videos tauchen die Teilnehmenden gemeinsam mit Sbai in dessen Arbeit ein. Mit dem »Zamane Festival«, das im Dezember 2023 zum zweiten Mal stattfindet, führt Sbai die Bemühungen und Aktivitäten bunt und divers zusammen. Denn es geht Sbai in seiner Arbeit auch darum, Marokko für Tourist*innen wieder attraktiver zu machen. Sbai nimmt alle Perspektiven in den Blick: Musik als Basis der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit, die Stärkung traditioneller Stile, um Jugendlichen einen Zugang zu ihrer Heimat zu vermitteln und das globale Ganze. Letzteres spielt bei dem Festival keine Rolle. Beim Festival geht es wie beim »Joudour Sahara Music Program« um das Lokale und Regionale. Internationale Künstler*innen nach Marokko zu buchen, ist für Sbai keine Option. Er wünscht sich, dass die junge Generation mithilfe der Musik neue Wurzeln in ihrer Heimat schlägt.

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Mimi Doulton – »Die Vorstellung einer Zukunft ohne Flüge«

Die britisch-pakistanische Sopranistin Mimi Doulton verließ aus Protest gegen den Brexit im Jahr 2020 London und zog nach Stuttgart. Das hatte Konsequenzen. Aufgrund zahlreicher Engagements an britischen Bühnen flog sie regelmäßig zwischen Deutschland und UK hin und her, bis sie im April 2021 beschloss, zukünftig auf das Flugzeug zu verzichten. Seitdem befindet sie sich im Austausch mit Künstler*innen und vor allem Veranstalter*innen, um diese Art des Reisens, die mehr Zeit erfordert, mitunter kostenintensiver ist und Auswirkungen auf die Planung von Tourneen hat, anzuerkennen und zu unterstützen.

In ihrem Workshop wirft Mimi Doulton mit den Teilnehmenden zunächst einen kritischen Blick auf den aktuellen Status Quo des Kulturbetriebs. Wie kann der Tourneealltag nachhaltiger gestaltet werden? Und wie kann der Dialog mit den Veranstalter*innen ausgebaut werden, um langsamere Arten des Reisens zu etablieren und dabei gleichzeitig die Kreativität zu fördern? Gemeinsam wird an der Ausarbeitung eines Fragebogens, eines »Manisfestes« gearbeitet, um beide Seiten – Künstler*innen und Veranstalter*innen – diesbezüglich ins Gespräch zu bringen. Aus dem »Slow Travel«-Ansatz erwachsen zahlreiche Chancen, nicht zuletzt für die Langlebigkeit von Projekten und Aufträgen. Die wichtigen Punkte des Fragebogens:

  • Ist Budget vorhanden, um die langsamere Art des Reisens seitens der der Veranstalter*innen zu unterstützen?
  • Je länger Künstler*innen vor Ort sind, desto mehr Zeit entsteht für kreative Arbeit und / oder Projekte, z.B. zusätzliche Konzerte und / oder Workshops.
  • Vernetzung 1: Können Künstler*innen auf dem Weg zum ursprünglichen Veranstaltungsort weitere Konzerte geben? Hier ist die Bereitschaft der Veranstalter*innen / Auftraggeber*innen gefragt.
  • Vernetzung 2: Lassen sich kreative Idee so austauschen und weitergeben, dass Künstler*innen nicht mehr auf andere Kontinente reisen müssen, sondern die Aufführungen dort auch von lokalen Künstler*innen durchgeführt werden können?
  • Wenn all dies nicht möglich ist und Künstler*innen per Flugzeug anreisen müssen: Macht es Sinn, das Veranstalter*innen das eingesetzte CO2 mit Zahlungen an Organisationen wie Atmosfair ausgleichen? 

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Emily Doolittle – »Recycled Sounds – a hands-on workshop on making music from trash«

In Emily Doolittles spielerischem und experimentellen Workshop erkundeten die Teilnehmer*innen die Klang- und Musikproduktion anhand von Gegenständen aus der Recyclingtonne. Nach einer kurzen Einführung wurden die Teilnehmer*innen in kleine Gruppen eingeteilt und entwickelten kurze Musikstücke mit Recycling- und Müllobjekten, Perkussionsschlägern, Schneebesen und Bögen. Der Workshop endete mit einer Aufführung der einzelnen Stücke.

Edoardo Micheli – »Klangökosysteme und Zuhörgemeinschaften«

Der italienische Komponist, Performer und Musiklehrer Edoardo Micheli beschäftigt sich mit dem Feld der Ökoakustik. In diesem Forschungsfeld werden Aufnahmen untersucht, um die Beziehungen und Interdependenzen in Ökosystemen besser zu verstehen. Die Ausgangsbasis: Alle Organismen produzieren Sounds, und mit der Analyse dieser Sounds wächst unser Verständnis für Ökosysteme. Durch Praktiken des Zuhörens ergeben sich neue Einblicke in unsere sich stetig veränderte Welt – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Klimawandels.

In seinem Workshop nimmt Micheli zunächst das menschliche Hörvermögen in den Blick. Wir hören nur einen Teil dessen, was in der Natur wirklich passiert. Unsere Wahrnehmung lässt sich unter dem Hashtag #FakeAuthenticity zusammenfassen. Das hat wesentlich mit der Interpretation dessen zu tun, was wir hören: Grillen zirpen als Gruppe synchron, um natürlichen Feinden gegenüber ihre individuellen Standorte zu verschleiern. Vögel singen während der Paarungszeit im Duett, um sich zu finden. Dem menschlichen Ohr bleiben diese Interaktionen oft verborgen.

Das menschliche Hören funktioniert anders, ist weniger komplex. Wir sind in der Natur keinem permanenten Überlebenskampf ausgeliefert. Das genaue Hinhören haben wir fast verlernt. Doch es gibt Ausnahmen, die vor allem dann zum Tragen kommen, wenn wir uns in unbekanntem Terrain bewegen, zum Beispiel als Tourist*innen. Hier spielt das Zuhören wieder eine besonders wichtige Rolle für die Orientierung und das Verstehen der Umwelt. Große Teile der Menschheit haben die Bedeutung der Ökoakustik praktisch vergessen – und damit auch die Beziehung zur Natur verändert. Micheli argumentiert, dass wir gar nicht weit in unserer Geschichte zurückgehen müssen, um die Sensibilisierung für Klänge, die uns umgeben, neu zu erlernen. Es ist noch nicht lange her, dass Landwirt*innen Vögel beobachteten, um das Wetter vorauszusagen. Oder – wie beispielsweise im Norditalien des 19. Jahrhunderts – Forscher*innen Finken-Arten anhand ihres Gesangs identifizieren konnten.  

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Präsentation des Residency-Teams

In Zusammenarbeit mit dem dänischen Komponistenverband und Art Music Denmark – der staatlichen Netzwerk-Organisation für zeitgenössische und klassische Musik sowie Klangkunst Dänemarks – ist eine dreitägige Künstler*innen-Residenz Teil von »Time To Listen« entstanden. Sechs Künstler*innen aus Berlin und Dänemark arbeiteten gemeinsam vor Ort in der Akademie der Künste an Ideen und Entwürfen zum Thema Nachhaltigkeit in globaler Perspektive. Die Residenz wurde bewusst als offenes und experimentelles Forum angelegt. Im Fokus: Wissensaustausch einerseits und andererseits die ganz persönlichen Perspektiven und Formate der Künstler*innen: Eduardo Abrantes, Samuel Hertz, Tania Rubio, Marina Cyrino, Miguel Angel Crozzoli und Heðin Ziska Davidsen.

Die Session begann mit der Präsentation der Ergebnisse der dreitägigen Residenz. Ob Performance, Intervention oder interaktives diskursives Format: Die Teilnehmenden der Session begaben sich auf Entdeckungsreise durch die Akademie der Künste und stießen dabei auf die parallel stattfindenden Präsentationen und Interventionen der Residencies. Neben dem Erleben der konkreten Darbietungen hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich abseits des Visuellen ganz auf die klangliche Dimension zu konzentrieren. Im Clubraum wurden die sechs Audio-Feeds auf ein Tablet gestreamt – die Teilnehmenden konnten auf dem Touchscreen ihren eigenen Audio-Mix zusammenstellen. Wer eines oder mehrere Projekte live erlebte, wurde Zeug*in raumgreifender, aber nie invasiver Performances, bei denen auch immer der unmittelbare Austausch mit den Teilnehmenden eine große Rolle spielte. Im Anschluss wurden die Ansätze gemeinsam diskutiert.

Die sechs Künstler*innen haben in dieser Konstellation zum ersten Mal zusammengearbeitet. Beim Kennenlernen wurde deutlich, dass die individuellen Kunstformen und Ansätze mitunter nicht miteinander kompatibel sind. Schnell wurde Klang als verbindendes Element ausgemacht. Verbunden mit dem performativen Charakter des Residenz-Programms entstand so eine Schnittstelle mit Klang und Hören als prominente Marker. Unterschiedliche Perspektiven und Möglichkeiten müssen im Rahmen der Residenz in die gemeinsame Arbeit einfließen – diese Idee korrespondiert mit dem individuellen Eindruck zum künstlerischen Umgang mit der Klimakrise. Ebenfalls korrespondiert der Zeitdruck des Projekts mit der Dringlichkeit des Klimawandels. Für die Künstler*innen ist klar: Die gemeinsame Wissensaustausch hat Horizonte geöffnet. Zuhören, Offenheit und gegebenenfalls Kooperieren inspiriert nicht nur in der Kunst, sondern auch beim Lösen globaler Probleme.
 

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Amanda Gutiérrez – »Aural Border Thinking als Methode des Zuhörens«

Die mexikanische Künstlerin Amanda Gutiérrez stellte in ihrem Workshop ihre Idee des »Aural Border Thinking« vor. Es ging ihr darum, wie sich unser Hörverhalten verändert, wenn wir unsere Lebensräume wechseln oder wenn wir umziehen: Zum Beispiel aus ländlichen Regionen in die Stadt oder in ein anderes Land. Für Gutiérrez bedeutet das Zuhören Solidarität mit und das Verständnis für Umgebungen, sogenannte »Positionalität«.

Diese »Positionalität« ist für Gutiérrez eine »dynamische Methode der Selbstreflexion«, die die Teilnehmenden des Workshops gleich zu Beginn selbst ausprobierten. Wie verändert sich unsere Wahrnehmung, sobald wir in einer neuen Umgebungen sind? Auf dem kurzen Sound-Spaziergang im Umfeld der AdK ging es zunächst darum, ganz persönliche Momente zu erinnern, die sich klanglich festmachen lassen. In einer Zeit der Stille wurden diese dann reflektiert – und schließlich aufgeschrieben oder -gezeichnet. Nicht auf Papier, sondern vielmehr in der Natur selbst, am Boden oder mithilfe von vorgefundenem Material. Diese Dokumentationen waren der Startpunkt für einen offenen Austausch innerhalb der Gruppe.

Die ganz unterschiedlichen Erinnerungen der Teilnehmenden und das gemeinsame Gespräch darüber symbolisieren für Gutiérrez auch eine Praxis der Dekolonisation. Erinnerungen sind persönlich und haben ihren ganz eigenen Kontext, sind dabei aber immer auch kompatibel mit den Erfahrungen anderer, können rekontextualisiert werden. Allein diese Erkenntnis – darüber waren sich die Teilnehmenden einig – kann einen positiven Effekt für soziales Engagement auf allen Ebenen haben. Das gemeinsame Verständnis individueller Erfahrungen ist ein wichtiger Schlüssel für politisches Engagement.

Für die Idee des »Aural Border Thinking« wurde Gutiérrez von ihrer Großmutter inspiriert, für die es in ihrer mexikanischen Heimat ganz normal war, die Tageszeit anhand der Vogelgesänge zu erkennen. Die Großmutter zog nach Mexiko-Stadt um, Gutiérrez selbst in die USA. Die einst gelernte »Hörpositionalität« beeinflusst unsere Wahrnehmung auch unabhängig vom Ort, an dem wir uns gerade aufhalten.

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Nele Möller – »(un)recording the field«

Die deutsche Wissenschaftlerin und Klangkünstlerin Nele Möller hat sich den Field Recordings verschrieben. Die in Brüssel lebende Künstlerin, die hauptsächlich in den Bereichen Sound, Performance und Schreiben arbeitet, konzentriert sich in ihrer forschungsbasierten Praxis auf historische Naturerkundungen, kritische Feldaufnahmen und Hörübungen. Und stellt dabei die Fragen, die in der langen Tradition dieser Kunstform bislang viel zu selten gestellt wurden: Wie müssen sich die Aufnehmenden gegenüber dem Aufgenommenen und den Aufgenommenen verhalten? Braucht es einen kritischeren Umgang mit Field Recordings?

Möllers Open Space beginnt interaktiv. Im Garten der Akademie der Künste stellen sich die Teilnehmenden auf die Wiese, schließen ihre Augen und hören ganz genau hin. Was klingt da? Welche Sounds sind nah, welche fern? Und welche Klänge haben sie auf dem Weg zum Symposium »Time To Listen« wahrgenommen? Möller sensibilisiert für die Sounds, die uns umgeben, egal wie still sie sein mögen.

Nach dieser Einstimmung referiert Möller die Geschichte der Field Recordings und gibt einen Einblick in ihre eigene Arbeit. Für ihr Langzeit-Projekt »The Forest Echoes Back« macht sie immer wieder Aufnahmen im Thüringer Wald. Dieses Habitat mit seinen ganz eigenen Klängen ist dabei nur einer von zahlreichen Stichwortgebern. Die Ausgangsposition bei Field Recordings ist strukturell problematisch. Ob Natur, Mensch-gemachtes Geräusch oder die klangliche Dokumentation von Traditionen, Ritualen, etc.: Field Recordings sind ein klangliches Abbild althergebrachter Machtgefüge. Die aufnehmende Seite dominiert und bestimmt. Mikrofon oder Gewehr? Für Möller gibt es hier keinen Unterschied. Nicht nur ob der technischen Infrastruktur. Field Recordings werden von den Aufnehmenden gesteuert, sie sind Jäger*innen. Die Wahl der Mikrofone spielt dabei genauso eine Rolle wie die finale Bearbeitung, das »In-Szene-Setzen«.

Möller beachtet in ihrer Forschung sowohl die ästhetischen Grenzen der Field Recordings als auch die ökologischen Konsequenzen. Die Produktion der notwenigen technischen Ausrüstung verbraucht genauso Ressourcen wie das Reisen zu den Aufnahmeorten. In der anschließenden Diskussion mit den Teilnehmenden kommen diverse Aspekte zur Sprache:

  • Wie objektiv sind Field Recordings wirklich? Allein das Setup der Aufnahmen und Aufnehmenden kann das Ergebnis bestimmen.
  • Vor diesem Hintergrund: Welchen Wert haben Field Recordings überhaupt?
  • Kann die Disparenz zwischen beiden Seiten (menschlich / nichtmenschlich) aufgehoben werden?
  • Spielt der respektvolle Dialog beider Seiten in dieser Auseinandersetzung eine Rolle?
  • Heutzutage wird praktisch alles immer dokumentiert. Braucht es eine neue künstlerische Positionierung der Field Recordings? Gibt es Parallelen zur Überwachung?
  • Braucht es immer neue field recordings überhaupt? Ist ein gemeinsam nutzbares Archiv realisierbar?
     

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Plenum – Kondensation und Ausblick

In der Schlussrunde kommen am späten Nachmittag Vortragende und Teilnehmende für eine detaillierte Reflexion und ein mögliches perspektivisches Fazit des Tagesprogramms zusammen. So erhalten alle Teilnehmenden einen Überblick auch über die Sessions, an denen sie nicht selbst partizipiert haben. Nach kurzen Zusammenfassungen und der Präsentation von Ergebnissen wird schnell klar: Ein Fazit gibt es nicht. Die Positionen reichen von konkretem, künstlerischem Aktivismus bis hin zu bewusster Zurückhaltung hinsichtlich der Frage nach Einflussmöglichkeiten auf die Gesellschaft von Kunst und zeitgenössische Musikproduktion im Kontext der ökologischen Krise. Viele Teilnehmende verweisen auf die Relevanz von kollaborativem Zusammenarbeiten: Im nachhaltigen (künstlerischen) Dialog können Veränderungen im Lokalen und in der Haltung von Einzelnen bewirkt werden. Für viele Teilnehmende sind und bleiben die Reiseaktivitäten von Künstler*innen und die damit entstehenden Emissionen die zentral zu lösende Aufgabe.

  • Wie kann der globale künstlerische Austausch zukünftig gelingen, wenn der Fokus doch auf dem Lokalen liegen muss?
  • Betrachtet werden muss nach wie vor das Themenfeld Dekolonisation und Verantwortlichkeiten zwischen dem sogn. globalen Norden und Süden.
  • Wie kann Klang in der Zukunft anders und nachhaltiger »reisen«, um nach wie vor so viele Menschen wie möglich zu erreichen?
  • In welchem Verhältnis stehen gesellschaftliche Relevanz von Kunst und die beim Reisen entstehenden Emissionen?

In der Diskussion über diese Punkte herrscht kreative Uneinigkeit. Die Gegenargumente:

  • Ist es überhaupt notwendig (und effektiv angesichts der notwendigen großen Hebel für eine ökologische Wende) in der Kunst vom Globalen auf das Lokale umzuschwenken? 
  • Die entstehenden Emissionen vergleichsweise gering. Die transformative Kraft von Musikprojekten muss ins Verhältnis zu Fragen wie dem ökologischen Foodprint gesetzt werden. Verursacht zum Beispiel das Video- und Musik-Streaming nicht schon heute viel mehr Emissionen?
  • Spielt hinsichtlich des Umgangs von Kunst und Kultur mit der ökologischen Krise das Konzept des Carbon Handprint die größere Rolle als der ökologische Footprint, vor allem als (kommunikativ) wirkungsvoller Hebel in unsere Gesellschaft hinein?
  • Die Vorbildfunktion von Künstler*innen, Projekten und Institutionen im Hinblick auf ökologisch-nachhaltige Produktion ist nicht zu unterschätzen und sollte in der Kommunikation mit dem Publikum eine wesentliche Rolle spielen. Welche Kommunikations-Strategien gibt es hier, auch im Hinblick der Inspiration aus anderen Branchen (nicht nur Kultur)?

Am Ende steht die Frage: Was ist Kunst, welche Relevanz haben Musik und Klang als Kunstform und was muss passieren, um sie auch weiterhin möglich zu machen? Welche Transformationen beschäftigen uns diesbezüglich, kommen auf uns zu? Hier ist Engagement gefragt – auf allen Ebenen. Kunst, Klang und Musik bedeutet immer auch Aktivismus, fordert also die Auseinandersetzung mit der Umwelt, in der diese Dinge entstehen. Und: Welche Rolle spielt ökologische Nachhaltigkeit in der Kommunikation von zeitgenössischer, künstlerischer Musikproduktion, nach innen (in die Produktionsprozesse, die inhaltliche und ästhetische Konzeptionen des künstlerischen Projektes selbst) und nach außen (in Richtung Publikum und Gesellschaft)? Wichtig dabei werden zunehmend Kollaborationen: zw. Künstler*innen, von Disziplinen und Sparten, von Wissenschaft und Kunst etc. »Time To Listen«: Dieses Motto war nie wichtiger als heute.