Der Monat der zeitgenössischen Musik ist ein gemeinschaftliches Projekt: Es sind die Ensembles, Festivals und Künstler*innen, die das Programm des Dachfestivals mit eigenen Veranstaltungen gestalten. Dies hat zur Folge, dass es nicht ein ausgerufenes Motto gibt, sondern eine Vielfalt an Themen und Formen des Musizierens und Komponierens, die sich als rote Fäden durch das Programm ziehen:
GEMEINSAM ERSCHAFFEN – VON KO-KOMPOSITION BIS IMPROKOLLEKTIV
Viele Musiker*innen bewegen sich heute frei zwischen Genres wie zeitgenössischer Musik, Improvisation oder elektronischer Musik. Die traditionelle Grenze zwischen Komponist*in und Interpret*in wird dabei oft bewusst aufgelöst, die Vielfalt gemeinschaftlicher Kreationsprozesse ins Zentrum gerückt. Bei der Eröffnung des MdzM am 31.8. im Kühlhaus sind das Sonar Quartett und das Trio Dell-Lillinger-Westergaard und Gäste mit eigenen Kompositionen zu hören. Das Reanimation Orchestra, das am 20.9. im ausland aufspielt, sucht immer neue Wege, auf denen seine Musiker*innen ihre wechselnden Rollen in der Gruppe mit Offenheit, künstlerischer Integrität und Authentizität ausfüllen können. Am 21.9. präsentieren Neo Hülcker und die MAM.manufaktur für aktuelle musik »etwas neues« – eine Gemeinschaftskomposition aus der MAM test kitchen, in der Musiker*innen des Ensembles mit Gästen zur Entwicklung experimenteller Formate zusammentreffen.
MITMACHEN – ANGEBOTE NICHT NUR FÜR KINDER & JUGENDLICHE
Mit ihrer Freude am Ausprobieren und Neugier auf Morgen öffnet die aktuelle Musik an allen Ecken und Enden Spielfelder zum Mitmachen und Erkunden. Beim Festival für selbstgebaute Musik am 1.9. laden offene Workshops einen Tag lang Menschen jeden Alters zum Basteln, Werken, Löten und natürlich zum Musikmachen. Im Workshop mit Rimini Protokoll haben Studierende der KlangKunstBühne die interaktive Installation »24 Timelines Performing« entwickelt, deren Tonspuren das Publikum am 15.9. im UdK Probensaal bespielen kann. Im Schrumpf! LAB am können Kinder von fünf bis acht Jahren zusammen mit ihren Erwachsenen, Maulwerker Christian Kesten und der Musikpädagogin Aida Shahidi ihre Stimmen (neu) kennenlernen und ungewöhnliche Instrumente entdecken (29.9., exploratorium berlin).
LEBENSRÄUME – STADTWELTEN & KLANGÖKOLOGIE
Viele Musiker*innen beschäftigen sich zunehmend mit unserem Verhältnis zur Umwelt und zu den Räumen, die wir im Alltag beleben und gestalten. Die Klimakrise und die Verantwortung für unsere Lebensräume schreibt sich tief in die Musikproduktion von heute ein, was sich auch im Programm des MdzM widerspiegelt: Die Installationen »The Whalesong Project« von Alexander Johannes (5.–6.9., Berliner Dom) und »h2XD« von Martin Supper (6.–15.9., Haus20) untersuchen die Klanglichkeit von Baudenkmälern. Die »Paretzer Field Music« lädt zu Picknickkonzerten im Havelland ein: Am 8.9. spielen dort Marina Cyrino, Sabine Vogel und Tony Buck. Am 12.9. eröffnet die fünfte Ausgabe von »ANIMA MUNDI«, bei der sich Musiker*innen aus Deutschland, Irland und Polen mit verschiedenen Umweltbeziehungen, Landschaftsveränderungen und Fragen der Nachhaltigkeit beschäftigen.
MUSIK VON MORGEN – TECHNOLOGIE & KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
Neue Technologien und insbesondere Künstliche Intelligenz beschäftigen auch die neue Musik. In dem interaktiven Online-Konzert »Steig durch das Tamtam« (10.–17.9.) entführt das Schwelbrandorchester sein Publikum in die Tiefen einer hochkomplexen Hybridwelt aus Klang, Animation, Livemusik, Elektronik und Video. »Woven All of Dream and Error« ist eine Ausstellung (11.9.–15.9.) von Kata Kovács und Tom O’Doherty, die mit Filmen, Bildern, und Sound die Überlappung zweier Bereiche der Technologiegeschichte betrachtet: Orte stillgelegter Eisenbahnlinien und das Aufkommen Künstlicher Intelligenz. In »Roller Coaster Lore« (18.9., KM28) hat die KI den Bundestag bereits übernommen: Die Performer Luke Nickel und Weston Olencki nehmen uns auf einer simulierten Achterbahnfahrt mit in den Spreepark, einen kollektiv geführten anarchistischen Themenpark. Für »AIODE Apocalypse« sind die Musiker*innen der Marc Sinan Company, Sara Glojnarić und Nicola Hein in einen musikalischen Dialog mit Künstlicher Intelligenz getreten. Was passiert, wenn Menschen und KI zusammen Kunst schaffen, hören wir am 21. und 22.9. auf dem Gelände der HTW Berlin.
KLANGFORSCHUNG – ANDERS SPIELEN & NEU HÖREN
Die aktuelle Musik ist von jeher ein Labor für die Erweiterung von Spieltechniken, Instrumentenkatalog und Höransätzen. Im MdzM werden neue Möglichkeiten traditioneller Instrumente erkundet, wie zum Beispiel im Konzert »Legal Downloads« mit dem Trompeter Nathan Plante (10.9., BKA) oder am 13.9. im silent green mit Schlagzeuger Julian Sartorius und Elektronik-Virtuose Matthew Herbert. Zugleich werden in der Konzertreihe »Entangeled Sounds« mit Dinah Bird und Ioana Vreme Moser Objekte und Körper auf ihr Potenzial zur Ergänzung des althergebrachten Instrumentariums untersucht (6.9., KM28). Den »Klang an sich« möchte das Duo Tolimieri-Wong durch die möglichst radikale Auslöschung syntaktischer Strukturen in seiner Musik freilegen (8.9., Morphine Raum). In der Konzertreihe »Rumpeln« nimmt Stefan Roigk das Geräusch zum Ausgangspunkt seiner Forschung und Mizuki Ishikawa verlagert das Hören von der Klangquelle auf die Manipulation des Raums als akustischer Umgebung (28.9., Studio 764).
WIDERSTAND LEISTEN – AKTIVISMUS & KRITISCHE REFLEXION
Die Frage, wie struktureller Ungerechtigkeit und gesellschaftlichen Missständen etwas entgegengesetzt werden kann, wird in den Veranstaltungen des MdzM auf vielfältige Weise verhandelt. Mit zeitgenössischer Musik und Lyrik spiegelt die Produktion »Unsettling Sounds« des Trickster Orchestra weibliche Erfahrungswelten in Iran und Afghanistan im Kampf gegen Unterdrückung und auf der Suche nach Handlungsfähigkeit (14.9., ACUD Theater). In der spätkapitalistischen Beratungskantate »Besser werden« für Erfolgsfanatiker*innen und depressiven Chor gehen Felix Stachelhaus, das Ensemble LUX:NM, die Sängerin Lisa Florentine Schmalz und der Richardchor Neukölln Aufstiegsversprechen und Selbstoptimierungswahn der Wohlstandsgesellschaft nach (20.9., Ballhaus Ost). Das performative Audiostück »Procession of Slings« begibt sich auf die Spuren des deutschen Kolonialismus im urbanen Raum (21.–22.9., Eckernförder Platz). In der Lecture-Performance zur Installation »Errant Earplugs« kann man sich zusammen mit der Künstlerin Suvani Suri auf die Suche nach überhörten Spuren aus einem kolonialen Archiv zu Sprachen und Dialekten des indischen Subkontinents begeben (13.9., Haunt / Frontviews).
GENRES DES MONATS DER ZEITGENÖSSISCHEN MUSIK
KLANGKUNST
Mit der Dystopia sound art biennial vom 7. bis 29.9. und dem Festival »Extended Spaces – Resonant Bodies: Alvin Lucier« von singuhr projekte vom 11. bis 22.9. liegt in diesem Jahr ein großer Schwerpunkt des MdzM im Bereich Klangkunst. Eine Installation von Elo Masing reagiert mit Klang auf die Arbeiten des Malers und Performancekünstlers Dolanbay in der Ausstellung »Negating Blank II«, die vom 6. bis 29.9. im Meinblau Projektraum läuft. Die vermeintliche Stabilität gültiger Ordnungssysteme bringt vom 6. bis 28.9. die gemeinsame Ausstellung »Beben« von Harriet Groß und Stefan Roigk im Axel Obiger mit zeichnerischen und akustischen Mitteln ins Wanken. Die Klangwelt von Baudenkmälern kann in der Installation »The Whale Song Project« von Alexander Johannes zwischen 9. und 11.9. im Berliner Dom erkundet werden. Zu einer Ausstellung mit Klang- & Videoinstallationen lädt außerdem die Edition Juliane Klein anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens mit »Fünfgezackt in die Hand« vom 29.9. bis 12.10. im KUNSTPUNKT BERLIN.
ECHTZEITMUSIK & IMPROVISATION
Ständig in Bewegung und seit Jahren wachsend, ist die Szene der Echtzeitmusik und freien Improvisation eine der aufregendsten der Stadt. Vom intimen Soloformat, das das Festival »Berlin Solo Impro« vom 3. bis 5.9. im Acker Stadt Palast in den Fokus nimmt, bis hin zu Ensembles wie dem Reanimation Orchestra, das am 20.9. im ausland aufspielt, kommen ihre Musiker*innen in festen oder spontanen Formationen zusammen. Ganze Orte widmen sich ihr, wie zum Beispiel das exploratorium berlin, das in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen feiert und im MdzM für Veranstaltungen am 3., 19. und 29.9. seine Türen öffnet. Aber auch Konzertreihen stellen sie in den Mittelpunkt, darunter Improvised and Experimental in der Galerie Hošek Contemporary (4., 11., 18. und 25.9.) oder Sentimental Punk im Kotti-Shop (7.9.), um nur einige wenige zu nennen.
KOMPONIERTE MUSIK
Auch Konzerte mit komponierter Musik kommen nicht zu kurz im diesjährigen Monat: Ensemble Adapter widmet dem Komponisten Walter Zimmermann nachträglich zum 75. Geburtstag das Konzert »Beginner's mind« und präsentiert am 1.9. ein Konzert ausgewählter Werke, im Rahmen einer Ausstellung von u.a. Zimmermanns Partituren in der Galerie Max Hetzler. Im Rahmen des Musikfestes sind am 12.9. die Ensembles Exaudi und Phace in der Berliner Philharmonie zu erleben, sie stellen zwei Werke von Isabel Mundry vor. Und das Zafraan Ensemble nähert sich am 12.9. Franz Kafka mit Vertonungen seiner Texte von Ruth Zechlin.
MUSIKTHEATER & PERFORMANCE
Jenseits der großen Geste der Oper ist in offenen Räumen in Berlin eine vielgestaltige Musiktheater- und Performanceszene gewachsen, die ganz selbstverständlich aus allen Bereichen der Kunst schöpft. Die Reihe »Pracinha« verbindet im Acker Stadt Palast Echtzeitmusik mit Clowns, Künstler*innen, Tänzer*innen und anderen Gästen zu einer Aktion mit offenem Ende – das nächste Mal am 1.9.. Die Kompanie glanz&krawall probt vom 3. bis 6.9. im CABUWAZI Tempelhof mit »Lulu: Revanche im Zirkuszelt« den Aufstand gegen das schöne Sterben, die immer gleichen femme fatale-Zuschreibungen und die Beschränktheit einer männlich dominierten (Kunst-)Welt. Raus aus dem Konzertsaal in ein Weddinger Waldstück führt am 21. und 22.9. das performative Audiostück »Procession of Slings« auf den Spuren des deutschen Kolonialismus in Ostasien. Dem Nachwuchs der Szene kann man am 18.9. bei der Musiktheaterwerkstatt im UdK Probensaal über die Schulter schauen.
FESTIVALS IM FESTIVAL
Wie in jedem Jahr finden während des Monats der zeitgenössischen Musik auch Festivals statt. Das Musikfest Berlin von den Berliner Festspielen und der Stiftung Berliner Philharmoniker startet am So. 1. bis Mi. 18.9. Die Klangkunstbiennale DYSTOPIA setzt vom 7. bis 29.9. einen Fokus auf Künstler*innen vom indischen Subkontinent. In 22 audiovisuellen Installationen, Performances und Interventionen im öffentlichen Raum begibt sie sich in diesem Jahr verstärkt auf die Suche nach Utopien und Auswegen aus dystopischen Zeiten. Und als letztes unter vielen genannt sei das Musikfestival für Solo-Improvisation »Berlin Solo Impro«, das vom 3. bis 5.9. Künstler*innen aus der Berliner Szene und dem internationalen Raum zusammenbringt.
Freuen Sie sich mit uns auf die immense, ja überfordernde, in jeden Fall aber beglückende Vielfalt des Programms des Monats der zeitgenössischen Musik Berlin. Die künstlerische und thematische Vielfalt verdeutlicht die Innovationskraft und Reflektiertheit hochprofessioneller und -spezialisierter Musiker*innen einer Freien Szene, wie sie auf dieser Welt einmalig ist.