Vor ein paar Monaten reiste meine Partnerin nach New York City und fragte mich, ob sie mir etwas von dort mitbringen könne. Alles, was mir einfiel, war die neueste Ausgabe eines Musikmagazins, das sich mit verschiedenen Formen extremen Metals befasst. Sie suchte alle Platten- und Buchläden in ihrer Umgebung ab – ohne Erfolg. Stattdessen brachte sie mir etwas anderes mit: Eine Kassette mit der Aufschrift »Generic Shit«. Eine kurze Recherche ergab, dass dies eines der vielen Projekte des verstorbenen Künstlers Philip Tarr war und dass seine einzige, selbstbetitelte Solo-Veröffentlichung zumindest bis zu einem gewissen Grad tatsächlich generisch war: Es handelt sich um sieben Harsh-Noise-Stücke mit ein paar Rhythmik und Vokaleinsätzen – durchaus einzigartig in der Präsentation, insgesamt indes nicht unbedingt innovativ.
Ich mochte es dennoch, auch wenn die Musik mich nicht ansatzweise so umtrieb wie der Titel der Veröffentlichung. Handelte es sich um eine Geste der Selbstironie oder der -abwertung? Wollte Tarr seine potenzielle Käuferschaft warnen oder ihr zumindest mitteilen, was sie zu erwarten habe? Immerhin hat auch meine Partnerin diese Kassette unter vielen anderen allein aufgrund der Worte auf der Vorderseite des Covers ausgesucht. Denn sie hatte eine Ahnung, dass ich den Inhalt womöglich gar nicht so scheiße finden würde, und sei es nur, weil sie per Selbstzuschreibung die Erwartungen im Zaum hielt oder weil ich Generisches in der Musik durchaus mag. Ich bin ja doch ein Mensch, der nur dann an ein Exemplar eines genrespezifischen Musikmagazins denken kann, wenn er gefragt wird, was ihm jemand aus einer der pulsierendsten Metropolen dieser Welt mitbringen könnte.
Es gibt unzählige Menschen, die sich dem einen oder anderen Genre verschrieben haben, sei es als Fans oder als Musiker*innen. Sie integrieren subkulturelle Codes in ihr Leben oder machen Musik nach bestimmten Formeln, weil sie sich – warum auch immer – mit dem identifizieren, wofür dieses Genre steht. Es gibt aber auch sehr viele Menschen, die alles verwerfen, was ihnen generisch vorkommt, ist der Begriff für viele doch gleichbedeutend mit Kleingeistigkeit und kultureller Stagnation. Das gilt insbesondere für das, was wir im Rahmen eines Magazins wie field notes als »zeitgenössische Musik« bezeichnen – womit ein wunderbar wirres Geflecht aus sehr unterschiedlichen ästhetischen Ansätzen, künstlerischen Praktiken und Ergebnissen bezeichnet wird.
Und doch verwenden wir Oberbegriffe wie »zeitgenössische Musik«, um Ähnlichkeiten und Zugehörigkeiten zwischen ihnen zu beschreiben und sie somit pauschal zu kategorisieren. Das wird im Allgemeinen sogar von denen akzeptiert, die mit Genres nichts zu tun haben wollen. Aber entstehen so nicht Genres?
Noten zum Feld
Nehmen wir zum Beispiel »Field Recordings«, ein Begriff, der sich entweder auf eine bestimmte Art von Aufnahmen (die im, nun ja, Feld gemacht wurden) oder eine bestimmte Praxis (Aufnahmen im, äh, Feld zu machen) beziehen kann, der aber ebenso – weil das ja noch zu einfach wäre – oftmals verwendet wird, um die Ergebnisse der Arbeit mit solchen Feldaufnahmen zu beschreiben. Das Berliner Label forms of minutiae dient als Plattform für letztere und spricht allerdings eher noch von »sonic ecologies« oder »soundscape compositions«.
Nach Releases wie Alëna Korolëvas großartigem Album »Premonitions« und »turning porous« von Labelmitbegründer*in Pablo Diserens ist die kürzlich erschienene Compilation »harkening critters« die bislang ambitionierteste Veröffentlichung des Labels. Mit beeindruckenden 33 Tracks kann diese vierstündige Charity-Compilation – die Einnahmen gehen an Friends of the Earth – leicht als eine Meta-Diskussion über Field Recordings als Genre verstanden werden. Während wahrscheinlich alle diese verschiedenen Stücke in der einen oder anderen bearbeiteten Form das grundlegende Klangmaterial repräsentieren, gibt es große Unterschiede darin, woraus die einzelnen Materialien bestehen, wie sie aufgenommen wurden und was anschließend mit ihnen gemacht wurde.
Viele der Stücke erwecken den Eindruck, als würden sie eine bestimmte Klanglandschaft in einer bestimmten Region zu einem bestimmten Zeitpunkt im buchstäblichsten Sinne naturalistisch wiedergeben. Hin und wieder bedienen sich einige Künstler*innen auch Verfremdungseffekten, die das Publikum an die Gemachtheit des Ganzen erinnern. »harkening critters« ist in mehr als einer Hinsicht eine anregende Zusammenstellung: Sie bietet 33 Fenster in sehr unterschiedliche Klangwelten und legt zugleich den Grundstein für eine tiefgreifende Diskussion darüber, wie wir Orte, Momente und die nicht-menschlichen Wesen dieser Welt wahrnehmen, wie wir sie vermitteln und interpretieren – was sie letztlich zu einer Compilation mit Field Recordings über Field Recordings macht.
Ähnliche Überlegungen liegen auch Aditya Ryan Bhats »fixed/fleeting« für Cedrik Fermonts Label Syrphe zugrunde: »Ich zögere, die Urheberschaft für diese Musik zu beanspruchen«, schreibt Bhat im Begleitschreiben und betont, dass die verschiedenen Flüsse, die auf dem 28-minütigen Stück in Form von manipulierten Field Recordings re-präsentiert und mit den Klängen von Bhats Percussion und Saxofonbeiträgen von Justinn Lu angereichert werden, »größtenteils für das verantwortlich sind, was Sie hören«. Interessant daran ist, dass Bhat das, was auf »fixed/fleeting« zu hören ist, dennoch so selbstbewusst als »Musik« bezeichnet – impliziert das doch, dass die menschliche Intention, das Aufgenommene neu zu arrangieren und ihm zusätzliche Klänge hinzuzufügen, den Unterschied zwischen bloßen Field Recordings und Musik ausmacht.
»Making Conversation« von crys cole definiert eine noch striktere Abgrenzung zwischen einer bestimmten Klanglandschaft (oder der individuellen, anthropozentrischen Erfahrung derselben) und ihrer Interpretation aus der Perspektive einer Rezipientin: Die Zusammenstellung dreier Auftragsarbeiten nimmt mit dem titelgebenden Stück seinen Anfang, das die in Berlin lebende Klangkünstlerin für eine achtkanalige Installation erarbeitet hat, mit der sie versuchte, »die Klanglandschaften zu evozieren, denen cole während nächtlicher Listening-Sessions auf Bali in Indonesien, in den Jahren 2018 und 2019 begegnet ist« – ohne dabei indes auf Field Recordings zurückzugreifen, die während diesen Nächten entstanden sind. Stattdessen ersetzte sie diese durch verschiedene akustische und elektronische Klänge aus unterschiedlichen Quellen.
Als simulatives Werk wird »Making Conversation« so zu einer Meditation über die Klanglandschaft, der sich cole ausgesetzt sag, und dient zugleich der Mediation ihrer eigenen Wahrnehmung als Künstlerin, die ihre Erfahrung nachstellt, um sie Menschen ohne direkte Erfahrungen des Erlebten zu vermitteln. Führt dieses Stück, das wir vielleicht als fiktionale Field Recordings bezeichnen könnten, also etwa keinen Dialog mit dem Genre Field Recordings, soll heißen der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Welt?
Dialoge zwischen Grenzgänger*innen
Field Recordings dienen immer auch als Reisebüro. Bhat nimmt uns entlang australischer Flüsse, cole nach Bali und »harkening critters« mit auf die wohl in finanziell wie ökologisch verträglichste Weltreise überhaupt. Ähnliches gilt für viel von der rein menschengemachten Musik, die heutzutage recht oft und sehr unbeholfen als »transtraditionell« oder »transkulturell« sowie »outernational« bezeichnet wird, nachdem Begriffe wie »Weltmusik« und »Fourth-World Music« ausgiebig und zu Recht kritisiert wurden. Interessant ist, dass es sich um Adjektive handelt, die lediglich eine Eigenschaft beschreiben und zumindest theoretisch primär für Differenzierung sorgen.
In der Praxis entwickeln solche Adjektive schnell ein Eigenleben und verfestigen sich als Zuschreibungen. Um das deutsche Label Glitterbeat und das dazugehörige Imprint tak:til mit einem Schwerpunkt auf Instrumentalmusik ploppen solche Worte immer wieder auf, obwohl es laut Selbstbeschreibung den Ausdruck »Vibrant Global Sounds« zu bevorzugen scheint. So ziemlich jede Platte auf dem Label ist allemal ein musikalischer Schmelztigel. So auch das wunderbare, selbstbetitelte zweite Album von Gordan, das überwiegend auf Volksliedern basiert, die gemeinsam von Sängerin Svetlana Spajić mit Noisenik Guido Möbius und Schlagzeuger Andi Stecher neu interpretiert werden.
Obwohl »Gordan« mit dem Material einer bestimmten Tradition arbeitet – musikalische Folklore aus dem Balkan im weitesten Sinne – und also eine Art Transfer vollzieht, integriert die Musik des Berliner Trios dieses Kernelement in ähnlicher Weise, auf die sie mit einigen Spurenelementen von Noise- und Krautrock, gelegentlich sogar Jazz, arbeitet: Es verortet diese Traditionen oder Genres nicht in einem anderen Umfeld, sondern nutzt ihre Elemente, um etwas Neues zu schaffen. Insgesamt führt dieses Album also nicht so sehr eine Tradition an einen anderen Ort, sondern rekontextualisiert sie vielmehr in einer anderen Zeit. Die Grenzen, die Gordan auf ihrer Reise überschreiten, sind zeitlicher und nicht so sehr geografischer oder kultureller Natur.
In gewisser Weise ist es bei dem über tak:til erschienenen Album »Coexistence« des südkoreanischen Duos Da:Lum genau andersherum. Ha Suyean und Hwang Hyeyoung verwenden traditionelle Instrumente – das Gayageum und das Geomungo –, um Musik zu machen, die so gut wie nichts mit der höfischen Musik zu tun hat, mit der diese Instrumente normalerweise in Verbindung gebracht werden. Das hält die Presse und sogar das Label des Duos nicht davon ab, ihre Herangehensweise und Musik mit der ihrer Labelkollegin Park Jiha oder anderer südkoreanischer Gruppen zu vergleichen, die ebenfalls Instrumente aus Korea mit einer langen Geschichte verwenden und Musik machen, die bestimmte Traditionen weder repliziert noch darauf reagiert – mit sehr unterschiedlichen Resultaten.
Dies sind sicherlich Beispiele für Fälle, in denen die Kategorisierung oder die Schaffung von Genres – wie lose sie auch sein mögen, wie implizit sie auch immer durch die Verwendung von Adjektiven konstruiert werden, die um die eigentliche Musik herum auftauchen – einen reterritorialisierenden Effekt auf Musik zu haben scheinen, die buchstäblich grenzenlos ist. Aber genau wie beim (Meta-)Genre der Field Recordings können solche Zuschreibungen produktive Effekte haben. Alben wie »Gordan« und »Coexistence« machen es möglich, über Fragen von Tradition und Moderne, Aneignung und Kulturtransfer zu reflektieren und betonen gleichzeitig, dass die Auseinandersetzung mit traditionellen musikalischen Formen oder Besetzungen sowie mit regionalen Besonderheiten eine Bedingung von Innovation sein kann.
Kein anderes Label hat dies dermaßen gut verstanden wie Post Orientalism Music, ein Ableger des in Teheran gegründeten und jetzt in Berlin ansässigen Noise à Noise. Unter der Leitung von Ehsan Saboohi hat es sich schnell zu einer bedeutenden Plattform für das eigene Werk des Theoretikers und Komponisten sowie gleichgesinnten Kolleg*innen entwickelt. Die Gruppe möchte eine Form der (Fremd-)Zuschreibung überwinden, indem sie sich eine andere zu eigen macht. Die Post-Orientalism-Komponist*innen arbeiten mit Aufnahmen persischer Radifs – melodischer Figuren, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden – und lassen sie auf verschiedene Weise mutieren. In einigen Fällen geht das so weit, dass Niloufar Shahbazis Kamancheh-Spiel unter einer Harsh Noise Wall begraben wird, Santur-Aufnahmen von Pegah Zohdi komplett dekonstruiert werden und noch mehr.
Zur Verteidigung des Genres
Auch wenn das Post-Orientalism-Projekt ein deutliches Beispiel für eine Gruppe von Menschen ist, die bewusst ihr eigenes Genre geschaffen hat: Unter denen, deren Musik von der Presse, Vertrieben oder ihren eigenen Labels als »transtraditionell« oder »outernational« beschrieben wird, hat niemand danach gefragt. Doch ähnlich wie Saboohi und seine Kolleg*innen lassen sie sich mit ihren sehr unterschiedlichen Mitteln ganz bewusst auf das Spiel mit Sounds und Signifikanten, Formen und Formeln ein, das jedem Genre zu eigen ist. Natürlich aber wäre es in der kritischen Auseinandersetzung damit ebenso unfair wie unproduktiv, die sehr unterschiedlichen Ergebnisse ihrer Praktiken allein als Ausdruck eines Genres zu betrachten.
In einem breiteren Kontext und mit Blick auf andere, wie auch immer vergleichbare Musik lassen sich allerdings die von ihnen herausgearbeiteten Nuancen analysieren und so unser Verhältnis zu Kultur im Gesamten problematisieren. Die Musik von Gordan, Da:Lum oder der Post-Orientalism-Crew würde von den wenigsten Menschen als »Weltmusik« bezeichnet werden, weil dieser ein Genre konstruierende Begriff eine Diskussion über die darin enthaltene Eurozentrik anstieße. In ähnlicher Weise offenbart ein Wort wie »outernational«, wie wir immer noch über Kultur als Produkt und Repräsentationsform des Nationalstaates nachdenken.
In semantischer Hinsicht erkennt das Wort das natürlich an: Es impliziert, dass diese Musik darüber hinausgeht, ähnlich wie Begriffe wie »transtraditionell« und »transkulturell« uns versprechen, dass Musik irgendwie als unüberwindbar angenommene Klüfte überbrücken kann. Die unbeholfen mit diesen Adjektiven apostrophierten Projekte machen, wie auch viele andere, diese Widersprüche auf ihre Weise hörbar und gehen dabei einen sehr eigenen Weg. Das anzuerkennen, kann hilfreich sein. Genre bietet selbstverständlich nur einen von vielen Blickwinkeln, von dem aus ein Stück Musik, ein Album oder die Aktivitäten einer Gruppe von Menschen betrachtet werden können. Es kann allerdings produktiv zur Reflexion einer Welt verwendet werden, mit der sich diese Musik und die Menschen dahinter auseinandersetzen.
Nun gibt es ebenso viele Menschen, deren Musik sich angeblich »jeder Kategorisierung entzieht« oder die sich jeglicher Zuschreibung verweigern und nicht mit bestimmten Genres oder dem Begriff eines Genres im Allgemeinen in Verbindung gebracht werden wollen, und ich selbst kann all jene verstehen, die nicht schubladisiert werden wollen. Ich bleibe aber auch misstrauisch gegenüber allem und allen, das und die behaupten, sui generis zu sein. Denn das riecht zum einen nach einem Geniekult, der in der Kunst seit über hundert Jahren zu Recht hinterfragt wird. Und impliziert zum anderen, dass eine Abgrenzung von anderen Formen von Musik und den Menschen, die sie machen, sowohl möglich (wie ich nicht hoffe), als auch wünschenswert ist (wie ich nicht glaube). Was zurück zu dem Tape bringt, mit dem alles begann.
Ich habe keine Ahnung, was Philip Tarr der Welt mitteilen wollte, als er eines seiner Projekte »Generic Shit« nannte und eine Kassette mit diesen Worten auf dem Cover herausbrachte. Was ich weiß: Dass meine Partnerin die Kassette sah, an mich dachte und mit ihr um die halbe Welt flog, weil sie annahm, dass die Musik darauf mir gefallen könnte. Darin liegt, denke ich, die wahre Schönheit von Genres: Sie schaffen und drücken Verbindungen zwischen Menschen aus, wie sie nur Musik ermöglichen kann. Weshalb ich generische Scheiße in der Regel überhaupt nicht scheiße und tatsächlich sehr toll finde.