Auf dieser Reise findest du deine Stimme wieder

Interview Koaxula

1. August 2024 | Lisa Nolte

Dancer with shadow suits performing Deslenguadas by Koaxula
©Luciana Riso

Die Multimediakünstlerin Daniela Huerta erforscht Hörpraktiken mithilfe von Mythologien als Zugang zum kollektiven Unbewusstsein und zu verborgenen Aspekten der menschlichen Psyche. Die interdisziplinär arbeitende Künstlerin Natalia Escobar entwickelt seit 2021 mit der trans-indigenen Frauengruppe Las Traviesas vom Embera-Volk in Kolumbien Kunstprojekte, die die Gruppe bei der politischen Selbstorganisation unterstützen und ihre Gemeinschaft stärken. Im Oktober 2023 haben Huerta und Escobar das Duo Koaxula gegründet, das am 29. August mit der Performance »Deslinguadas« in der Kuppelhalle des silent green Kulturquartier zu Gast ist. field notes Redakteurin Lisa Nolte hat mit den beiden über weibliche Archetypen, die Klangqualitäten von Peitschen und die Göttinnen der Mexica gesprochen.

Was bedeutet »Koaxula«?

Natalia Escobar: Das ist ein erfundenes Wort. Wir haben mit verschiedenen Buchstaben gespielt. Weil die Idee unseres Projekts war, Narrative neu zu erfinden und hybride Arbeiten zu schaffen, schien ein erfundenes Wort passend.

Wie ist es zu eurer Zusammenarbeit gekommen?

NE: Die Kurator*innen Sally Montes und Rogelio Sosa haben die Reihe »El Sonido Que Atraviesa« (dt. »Der durchdringende Klang«) im CCD, dem Centro de Cultura Digital in Mexico-Stadt, geleitet. Sie haben uns zu einer Residenz eingeladen, bei der wir ein zum Abschluss der Reihe ein ortsspezifisches Projekt entwickeln konnten.

Der Titel eurer neuen Performance ist »Deslenguadas«. Für den Begriff findet man alle möglichen Übersetzungen von »glattzüngig« bis »ungeschrieben«. Wie würdet ihr ihn übersetzen?

NE: »Deslenguadas« heißt wortwörtlich übersetzt »ohne Zunge« oder »herausgeschnittene Zungen«. Im übertragenen Sinne meint es den Verlust der Stimme und die Gewalt, von der historisch Marginalisierte, Kolonisierte und Unterdrückte betroffen sind. Glaubenssysteme wurden aufgezwungen, Sprachen zerstört. In »Deslenguadas« repräsentieren Tänzerinnen diejenigen, deren »Zunge herausgeschnitten wurde« und nun ihre Stimme wiederfinden. Auf dieser Reise findest du deine Stimme wieder.

Daniela Huerta: In unserem Mythos »Deslenguadas«, wurden diese Zungen in den Abgrund eines Schlangenmauls geworfen, den Ouroboros. Sie wurden versteinert und blieben in einem Schlafzustand erhalten, als ob sie im Maul der Schlange brüten würden, bewacht von Reihen gefährlicher Zähne – einer Art »Vagina Dentata«. Die klangliche Energie ihrer Peitschen ermöglicht den Deslenguadas den Übergang zwischen verschiedenen Dimensionen. Sie reisen damit in die Unterwelt und suchen die zerstörerischen und transformativen Kräfte, die sexuelle Macht und die Worte der abgetrennten Zungen verschiedener weiblicher Wesenheiten, die dort leben. Es ist eine Rückkehr in die Wildnis, eine Wiedervereinigung mit ihrer dunklen, animalischen Seite und der verborgenen Macht der Großen Ouroborischen Mutter.

Baut die Performance, die ihr in der Kuppelhalle präsentiert, auf das auf, was ihr bei der Performance in Mexico gemacht habt?

NE: Ja, das wird sie. Seit Mexiko haben wir die Komposition weiterentwickelt. Wir lassen Aufnahmen von den CCD-Performances einfließen, die mit verschiedenen Syntheseverfahren bearbeitet sind. Wir werden die Komposition und die Performance weiter auf die Geschichte und die klanglichen Qualitäten der Kuppelhalle abstimmen. Die Zusammenarbeit mit neuen Tänzerinnen wird dem Stück eine andere Energie verleihen. Wir werden außerdem den Einsatz von Peitschen erweitern, nicht nur akustisch, sondern auch performativ. Da gibt es noch viel zu erforschen.

DH: Wir werden mit der deutschen Choreografin Marie Zechiel und drei Berliner Tänzerinnen arbeiten. Das wird also etwas ganz anderes entstehen als das, was wir in Mexiko gezeigt haben, weil sie den Mythos in einem neuen kulturellen Kontext interpretieren. Die Erzählung entwickelt ein eigenständiges Leben, wenn sie durch die Aufführung an bestimmten Orten erweitert wird. Außerdem wird es sich definitiv darauf auswirken, wie wir unser Stück vor Ort entwickeln, dass es in der Kuppelhalle stattfindet, einer Trauerhalle und dem ersten Krematorium in Berlin, das von der sich wandelnden Auffassung vom Tod zeugt.

Tänzerin performt Desleguadas von Koaxula
Tänzerin bei der Performance von »Deslenguadas« im Centro de Cultura Digital in Mexiko-Stadt
© Miriam Rosas

Für deine Arbeit als Komponistin und Performerin spielt Deep Listening eine wichtige Rolle, Daniela. Was würdest du dem Publikum für »Deslenguadas« mit auf den Weg geben? Es wird keine klassische Konzertsituation sein. Als Hörer*in befindet man sich mitten in dieser sehr physischen Performance.

DH: Die Idee ist, dass sich das Publikum im Raum bewegt und verschiedene Perspektiven auf die Performance einnimmt. Es gibt viele Instrumente, darunter Peitschen, die den Raum akustisch aktivieren. Die Tänzerinnen agieren ebenfalls als Instrumente. Sie bewegen sich unablässig im Raum und vollführen Stimmgesten, die sich allmählich steigern. Natalia und ich spielen elektroakustische Instrumente und benutzen ebenfalls unsere Stimmen. Diese Elemente zirkulieren während der gesamten Aufführung im Raum. Dadurch wird das Publikum zu einem nicht-linearen Hören eingeladen und kann alle Elemente intuitiv und eigenständig erkunden.

Was sind diese Elemente?

NE: Bei der Performance im Silent Green werden Daniela und ich ein quadrophonisches Live-Set mit elektroakustischen Instrumenten spielen, begleitet von den Tänzerinnen mit ihren Peitschen und einer Sängerin. Die Peitschen dienen aber nicht nur als klangliches Element, sondern auch als Metapher für die Macht der Mexika-Gottheiten Coatlicue und Tlazolteotl und der Embera-Gottheit Jefã, die mit Schlangen assoziiert werden.
Peitschen werden traditionell mit Unterdrückung und Bestrafung in Verbindung gebracht. In unserer Performance werden sie Symbol der Selbstermächtigung und der Lust wieder aufgegriffen. Die Peitsche hat zugleich diese symbolische Bedeutung und eine ganz besondere akustische Präsenz. Sie durchbricht die Schallmauer, ist also ein sehr mächtiges Objekt. Wir waren fasziniert von dem Moment, bevor sie knallt. Er scheint die Zeit aufzulösen und die Bedeutung der Gottheiten neu zu definieren.
Unsere Ausbildung war sehr eurozentrisch. Solche Sachen wurden uns in der Schule nicht beigebracht. Die Rückbesinnung auf unsere Wurzeln und unsere Identität ist ein Weg, diese Archetypen zu dekolonisieren.

DH: Ein weiterer Bestandteil der Performance sind die Shadow Suits, ein Design von Jen Gilpin vom Label DSTM. Das sind Anzüge mit abnehmbaren, dehnbaren Elementen, die zwei Personen miteinander verbinden, so dass es so aussieht, als sei eine der Schatten der anderen. Außerdem kommen traditionelle Flöten, Shaker und Elektronik zum Einsatz und es gibt eine Sängerin, wie Natalia bereits erwähnt hat.

Performance von Koaxulas Desleguadas
Koaxula und Ilhem Khodja bei der Ausführung von »Deslenguadas« im Centro de Cultura Digital in Mexico-Stadt
© Miriam Rosas

Wer wird das sein? Welchen Stil bringt sie ein?

DH: Was würdest du sagen, Natalia, welchen Stil bringt Ilhem Khodja mit?

NE (lacht): Erhaben und doch irdisch. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Sie bringt sehr schöne, beruhigende Klänge ein. Die Komposition ist eigentlich sehr aggressiv, kathartisch und verrückt. Sie ist sozusagen der Moment der Wiedergeburt des Mythos.

Wie habt ihr die Mythologien kennengelernt, die der Ausgangspunkt für euren eigenen Mythos waren?

NE: Ich habe die Embera-Mythen durch Las Traviesas kennengelernt. In einigen Fällen kannten nicht einmal sie selbst diese Geschichten, sodass sie ihre Mütter oder Großmütter danach fragen mussten. Es ist wichtig, die Verbindung zu diesen Kosmovisionen wiederherzustellen und diese Geschichten nicht zu verlieren, insbesondere weil es sich um Mythen, Symbole und Erzählungen von Gottheiten handelt, die hauptsächlich mündlich überliefert werden. Die Mythologien der Mexica habe ich durch Daniela kennengelernt.

DH: Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit archaischen weiblichen Archetypen und finde Coatlicue eine der faszinierendsten mexikanischen Gottheiten. Sie war eine wichtige Inspiration für frühe feministische Bewegungen und wurde als »Schlangenrock« bekannt. Sie steht für Erde und Fruchtbarkeit und wurde auch mit Leben und Tod assoziiert. Sie trug einen Rock aus Schlangen und eine Halskette aus Menschenherzen, Händen und Schädeln. Coatlicue verkörpert die gefräßigen, verführerischen und giftigen Aspekte des Archetyps der »Schrecklichen Mutter«.

NE: Eine Statue von Coatlicue wurde zusammen mit dem Azteken-Kalender entdeckt. Im Gegensatz zum Kalender wurde Coatlicue aber viele Jahre lang nicht ausgestellt, sondern versteckt. Die christlichen spanischen Invasoren hielten sie für ein unangemessenes Götzenbild, aber sie erkannten auch die Macht und Anziehungskraft, die sie auf die Mexica ausübte.

Aber jetzt ist die Statue nicht mehr versteckt?

NE: Heute ist sie im Nationalmuseum für Anthropologie in Mexiko-Stadt ausgestellt, neben dem Azteken-Kalender.

Deslenguadas in Bewegung auf dem roten Hintergrund
  • Elektronische / Elektroakustische Musik Klangkunst / Sound Art

Koaxula pres. Deslenguadas

silent green präsentiert

19:00 Uhr | silent green Kulturquartier

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