[Update: Leider musste das Symposium Corona-bedingt ausfallen - für die Relevanz des Leitartikels tut dies natürlich nichts zur Sache]
Zunächst ist da der Aspekt der Präsenz – ein schillernder Begriff, der vieles umfasst, was für Improvisation charakteristisch ist und mich daran begeistert: In erster Linie ist es für mich das idealtypisch Nicht-Repräsentationale; eine Improvisation bildet nichts ab, sie entsteht stets aufs Neue und ist nicht wiederholbar. Sie entspringt dem Moment der vollkommenen Gegenwart – einer Gegenwart, die zugleich durchtränkt ist von allen Möglichkeiten, die die Vergangenheit bereitstellt. Trotz aller Grundierung in den Erfahrungen der Improvisierenden ist die konzentrierte Zeit vor dem Beginn der Musik ein Augenblick der Leere und der tendenziellen Unkenntnis dessen, was geschehen wird. Reines Da-Sein und Potentialität sind auch im weiteren Prozess der Entstehung der Musik bestimmende Zustände des Spielens. Die Gegenwart der Improvisation ist gleichermaßen eine zeitliche wie räumliche, Präsenz beschreibt damit die (gemeinsame) Anwesenheit in Raum und Zeit. Diese Ausgangskonstellation kann sich wiederum in einer besonderen Intensität der Aura oder der Atmosphäre äußern. Präsenzphilosophien, wie sie von Hans Ulrich Gumbrecht oder Dieter Mersch formuliert wurden, nehmen Abstand zur Sphäre des Hermeneutischen, des Sinn-Verstehens. Sie postulieren in einer Ära des linguistic turn eine Welt des bloßen Sich-Ereignens, die jeglichem Referentiellen vorgängig ist oder sich dem Sinn-Behafteten entzieht. So lassen sie nicht nur die Dimension des Sinns gelten, sondern argumentieren entscheidend für eine Sicht auch auf das rein Phänomenale und das Erscheinende. Damit gerät Sinn in gewisser Weise zum Antipoden der Präsenz, wenngleich maßgeblich auch das Korrelationsverhältnis beider Begriffe betont wird. Und es ist in der Tat genau jenes Oszillieren zwischen (konkreten) Bedeutungsebenen und (abstraktem) Klang, was einen wesentlichen Anstoß dazu gab, bezogen auf Improvisation die Frage nach Sinn und Präsenz zusammenzubringen und miteinander zu verschränken.
Eine weitere Faszination – im Hinblick auf Sinn – besteht in einer grundlegenden Wahrnehmung geschaffener Weltbezüge als zeichenhafte. Kultur ist demgemäß stets les- und decodierbar. Sinnstrukturen semantischer, semiotischer oder symbolischer Natur umgeben uns und eine beständige Verortung der Phänomene in Kontexten und in Geflechten von Bezüglichkeiten ist unabdingbar. Mit ausgelöst wurde meine Aufmerksamkeit auf ein auch semiotisches Hören durch den Aufsatz »Das Sample als Zeichen« von Heiner Goebbels, der an Roland Barthesʼ »Die Lust am Text« anknüpft. Bei Goebbels ist Klang zwar lesbar und alle Musik in ihrer unausweichlichen Historizität zeichenhaft, dennoch appelliert er nicht an musikalisches Material als symbolischen Vertreter, sondern argumentiert für dessen unmittelbares Wirken innerhalb subjektiver ästhetischer Erfahrung. Goebbelsʼ Nutzung ganz bestimmter Materialien in ebenso bestimmten Kontexten sind in seine Musik eingespeist, aber vielfach nicht von Rezipierenden eindeutig einzuordnen.
Wann liegen solche Momente der bewussten oder unbewussten Bezugnahmen in zeitgenössischer Improvisation vor? Gibt es Ebenen der Intertextualität und der Anspielungen? Inwieweit spiegeln sich bestimmte Haltungen in der Art improvisatorisch zu agieren? Oder spielen die Arten der Klanghervorbringung keine bedeutende Rolle und es geht tatsächlich nur um die klingenden Resultate? Vielen geht es um Kommunikation in und mit Musik; aber ist ästhetische Kommunikation in der Domäne der Vermittlung von Bedeutung anzusiedeln, im Austausch von Sinnhaftem?
Der Vergleich, dass Improvisationsmusiker*innen „ihre eigene Sprache“ sprechen bzw. entwickelt haben, ist augenfällig und weitverbreitet. Der Gitarrist (und Sprachwissenschaftler!) Olaf Rupp, dessen Solospiel für mich so etwas wie den Inbegriff von Präsenz darstellt, versteht seine Kunstform bemerkenswerterweise als Audiosemantik. Aber wie konkret oder abstrakt sind die zu hörenden Bedeutungen? In einer Performance vertonten Kaja Draksler und Irena Tomažin improvisatorisch slowenische Gedichte. Für jemanden, der die Sprache nicht versteht, klingt die Stimme sehr abstrakt, wie Lautpoesie; die sprachlichen Inhalte verbleiben im Dunkeln. Zugleich ist es enorm, wie stark der Einsatz von konkreten Worten oder Satzbausteinen Instrumentalmusik verändern kann. Es können plötzlich Tore in andere Lebensbereiche geöffnet werden, zum Beispiel wenn Annette Krebs unvermittelt Sprachfetzen aufblitzen lässt. Weniger subtil eingesetzt, kann Musik aber auch leicht zur bloßen Vertonung der Inhalte verkommen. Improvisation ist weit entfernt von der in Neuer Musik nicht unüblichen Programmheft-Ästhetik, mit Hölderlin als ihrem Schutzheiligen. Und doch werden auch hier gelegentlich Brücken gebaut, wenn Improvisationen im Nachhinein mit Namen versehen werden. Wenn etwa Carl Ludwig Hübsch, Pierre-Yves Martel und Philip Zoubek mit lautmalerischen Stücktiteln wie Rrrpr. Kroa. Kraandl. an Joyceʼ Ulysses anknüpfen, oder das Peter Brötzmann Octet mit Machine Gun nicht nur eine Sound-Assoziation eröffnet, sondern viel weitreichender einen Verweis auf die Brutalität von Waffengewalt überhaupt evoziert. Vielleicht erzählen aber bereits die von Improvisator*innen verwendeten Objekte Geschichten. Bei Magda Mayas kann man nachlesen, was für Erinnerungen einige Szene-Protagonist*innen mit ihren selbst gefundenen Materialien verbinden und was sie für sie bedeuten: Individuelle Assoziationen und Erfahrungen, die unbemerkt in die Musik einfließen, aber doch da sind.
Auf dem Symposium gibt es Keynotes von Nicola Hein, der diskursanalytisch auf Temporalität blickt; von Christian Grüny, der Sinngenese in heterogenem Material nachspürt; und von mir mit einer Einordnung von Präsenz als improvisationsästhetische Kategorie. Des Weiteren fragt Nina Polaschegg nach der Bedeutung des Live-Erlebnisses; Thomas Gerwin lotet das Changieren von Sinn und Präsenz in konkreter Musik aus; Sabine Vogel stellt Präsenz-Wahrnehmung im Rahmen ihrer Tuning-in-Methode vor. Jin Hyun Kim geht es um die Genese von musikalischen Sinn im Akt des Embodiments; Andrew Wass spricht in Anlehnung an Aristoteles und Husserl über noetische Zyklen in Solo-Tanzimprovisation. Jean Beers und Ingo Reulecke versuchen gegensätzliche Ästhetikern transdisziplinär zu vereinen. Alex Nowitz thematisiert in einer Lecture-Performance die Bereiche zwischen linguistisch-semantischen Vermittlungseinheiten und klangpoetischen Ausdruckselementen. In einem Panel diskutieren nach kurzen Impulsreferaten Ursel Schlicht (zu musikalischen Sprachräumen), Wolfgang Schliemann (über implizite politische und soziale Dimensionen), Christoph Baumann (zur grundsätzlichen Abstraktheit von Klang) und Carl Ludwig Hübsch (aus einer Zen-Perspektive). Urban Mäder, Reinhard Gagel und Carl Bergström-Nielsen leiten Gruppenimprovisationen unter verschiedenen Aspekten an, um diese gemeinsam anhand ihrer vorgestellten Theorien zu analysieren. Annemarie Michel blickt auf Präsenz als kommunikatives Element in performativen Prozessen musikalischer Sinnbildung; Franziska Schroeder knüpft an Pessoa an und denkt ihn weiter im Hinblick auf die Multiplizität des Improvisationskörpers; und Doris Kösterke postuliert – mit soziologischem Blick – Präsenz als Sinn der Improvisation.