Ein Fenster zur Welt
Portrait: Elnaz Seyedi
15 December, 2023 | Egbert Hiller
15 December, 2023 | Egbert Hiller
Bei der diesjährigen 25. Ausgabe von Ultraschall Berlin stehen gleich mehrere Werke von Elnaz Seyedi auf dem Programm. Sie zeigen das Facettenreichtum einer Komponistin, die ihre Inspiration gleichermaßen aus der Literatur, der Kulturgeschichte des Irans und der Natur bezieht. Ein Portrait von Egbert Hiller.
»Neue Musik machen ist wie Duschen mit kaltem Wasser«, bemerkte der Komponist Alireza Mashayekhi, in Teheran einer der wichtigsten Lehrer von Elnaz Seyedi und vielen anderen iranischen Komponist*innen. Schon früh war Seyedi von dieser »kalten Dusche« fasziniert. Mit 14 Jahren kam sie zu Mashayekhi, um zunächst Musiktheorie und später Komposition bei ihm zu studieren: »Er war«, wie sie erzählt, »ein charismatischer Lehrer, der eine engagierte Gruppe junger Musikbegeisteter um sich versammelte. Es war wunderbar, Teil dieser Gruppe zu sein. Der Unterricht fand überwiegend in Mashayekhis Wohnzimmer statt. Ich habe viel Zeit dort verbracht und kann sagen, dass ich durch ihn Komponistin geworden bin.« Seyedi wurde im Jahr 1982 in Teheran geboren, drei Jahre nach der »Islamischen Revolution«, die auch für das kulturelle Leben einschneidende Konsequenzen hatte. Es war nicht die einzige politische Entwicklung, die ihre Kindheit und Jugend prägen sollte. »Ich bin während des Iran-Irak-Krieges und dessen Folgen geboren und aufgewachsen; es gab keine Konzerte, kaum Theater«, erzählt Seyedi. »Aber es gab Bücher, Literatur aus aller Welt in sehr guten Übersetzungen. Das war mein Fenster zur Welt, ich habe sehr viel gelesen.« Seyedi nahm parallel zu ihrer Ausbildung in Komposition Klavierunterricht und studierte in den Jahren 2000 bis 2005 zudem Informatik an der Azad-Universität in Teheran. 2007 setzte sie ihre Musikstudien in Deutschland unter anderem bei Younghi Pagh-Paan fort. Die Bremer Professorin motivierte Seyedi, ihre kulturellen Wurzeln nicht auszublenden.
Per se lässt Seyedi ihre Heimat nicht los. Obwohl den Iran und Deutschland Welten trennen, sucht sie auch das Verbindende. Bewusst und unbewusst verarbeitet sie in ihrer Musik Erfahrungen und Erlebnisse aus dem Iran. Ein zentrales Moment in diesem Kontext ist die zutiefst poetische Dimension in ihrem Schaffen, die sie vor allem auf die Inspiration durch Literatur zurückführt. Heute ist Seyedis Musik selbst ein Fenster zur Welt, wobei literarische Assoziationen etwa in »ps: and the trees will ask the wind«, eine Gemeinschaftskomposition mit Ehsan Khatibi von 2020, eine große Rolle spielen. Italo Calvinos »Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend«, Eugenio Montales »Kleines Testament« und vor allem Aleida Assmanns »Formen des Vergessens« waren Quellen der Anregung. Mit Fragmenten aus Assmanns Untersuchung sind die elf Abschnitte des Werks überschrieben. »Vergessen geschieht lautlos und unspektakulär« lautet der Titel des ersten Fragments, das mit den als Präambel vorangestellten Worten aus Gabriel García Márques’ berühmtem Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« korrespondiert: »Eine Blutspur drang unter der Türe hervor, rann auf die Straße (...) Sie verfolgte den Blutfaden in entgegengesetzter Richtung, ging auf die Suche nach seinem Ursprung (...), und hier sah sie die beginnende Spur des Blutes.«
Seyedi und Khatibi fokussieren sich in »ps: and the trees will ask the wind« auf das Phänomen kollektiver Erinnerung, eine (klang-)sinnliche Verlebendigung von Geschichte mit den Mitteln der Abstraktion: mit Text,Video,Licht und Musik, die mit ungewöhnlichem Instrumentarium – Paetzold-Flöte, Violine und Objekte – eine auratische Sphäre zwischen Kontemplation und Beklemmung erzeugt. Fast leitmotivisch mutet das Reiben von Spachteln, einem gewöhnlichen Werkzeug, an, das nicht nur spezifische Geräusche hervorruft, sondern sinnbildhaft auch für das »Zuspachteln« von Erinnerungen oder, als Gegenspannung, für das Hervorholen von Verdecktem und Verborgenem steht. Auch wenn für Seyedi und Khatibi der Iran ein biografischer und kultureller Bezugsort ist, greift »ps: and the trees will ask the wind« mit markanter Eindringlichkeit weit darüber hinaus: aufs Universelle und allgemein Menschliche.
In andere, jedoch intuitiv verwandte geistig-klangliche Regionen tauchte Elnaz Seyedi in ihrem Orchesterstück »a mark of our breath« ein, dem zweiten bei Ultraschall Berlin programmierten Werk. Uraufgeführt wurde es im August 2022 im Rahmen der WDR-Reihe Miniaturen der Zeit. Seyedi wählte dafür einen doppelten Anknüpfungspunkt: Zum einen entnahm sie den Titel einem Gedicht des russischen Lyrikers Ossip Mandelstam, der 1938 in einem Straflager des Stalin-Regimes starb. Zum anderen ließ sie sich während eines Aufenthaltsstipendiums auf dem Künstlerhof Schreyahn von der Landschaft im Wendland inspirieren: »Von dem weiten Blick mit Dreiviertel-Himmel, der bei jedem Wetter und jeder Tageszeit unterschiedlich, aber immer spektakulär ist, und einer Landschaft mit einem reichen Spektrum von Grün und später im Herbst von Gelb.«
Seyedi wäre aber nicht Seyedi, wenn die Musik in bloßer Naturbeschreibung verharren würde. Vielmehr wird die vermeintliche Idylle aufgebrochen und drohende Veränderungen, metaphorisch für die allgegenwärtige Vernichtung natürlicher Lebensgrundlagen, in verhalten düstere, meditative und dabei streng strukturierte Klänge gefasst. »Das Stück«, so Seyedi, »beginnt in dieser friedlichen Landschaft, die aber nach und nach von Innen zerbricht. Die menschlichen Stimmen – gleichzeitig gespielt und gesungen in den Blechblasinstrumenten – sind einerseits Teil dieser Landschaft, bereichern sie mit ihrer sehr besonderen Farbe. Ihre Kehrseite ist jedoch die Zerstörung eines scheinbar Ursprünglichen.«
Beide Werke, »ps: and the trees will ask the wind« und »a mark of our breath«, zeigen auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Ausdehnung in ihrer extremen Unterschiedlichkeit das breite Spektrum der Komponistin auf, die sich längst international etabliert hat. Obwohl die zeitgenössische Musik einem breiteren Publikum immer noch wie eine »kalte Dusche« vorkommen mag: Die Intensität der Musik von Elnaz Seyedi zieht unweigerlich in den Bann.