Opposite Editorial: Hannes Seidl

Liebe Leser*innen,

was hier alles los ist! Immer noch! Ich weiß, die Stimmung ist miserabel, und das zu Recht. Wieder einmal müssen wir – anstatt den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt voranzubringen – das Schlimmste verhindern. Von einer gerechteren und freieren Welt wagen wir kaum noch zu träumen. Es wäre schon viel, wenn Menschenrechte für alle gelten würden, Vermögen besteuert würden und wir den Klimawandel auf ein erträgliches Maß reduzieren könnten.

Und dennoch: Geht zu Konzerten! Hört Musik! Nutzt diese Freiräume, um Kraft zu tanken, neue Impulse zu gewinnen und mitgerissen zu werden. Das ist nicht nur schön, es ist auch nötig. Wir können es uns schlicht nicht leisten, durchzudrehen oder zu resignieren.

Neue Impulse gibt es dieses Jahr zum Beispiel bei der Klangwerkstatt Berlin, noch bis zum 16. November läuft das Voices Berlin Festival und vom 20. bis 23. November ist wieder das Musiktheaterfestival BAM!

Die diesjährige Ausgabe von BAM! setzt einen Schwerpunkt auf polnische Künstler*innen. Sehr zu empfehlen ist Freitag, der 21.11., an dem es gleich zwei Highlights in der Neuköllner Oper gibt: »Inner Monologue« von Wojtek Ziemilski und »Misspiece« von Dominika Wiak. Den Auftakt machen bereits am Donnerstag Mercier/Böttcher mit dem neuen Stück »lavomatik«. Den Ab- schluss am 23.11. macht dann die MAM.manufaktur für aktuelle musik gemeinsam mit über 50 Jugendlichen mit meiner Berliner Version von »B-Ebene. Underground Stories Neukölln«: Mit den Augen und Ohren derjenigen, die noch richtig viel vorhaben in ihrem Leben, beobachten wir die Stadt, sezieren und spiegeln ihren Alltag und machen Vorschläge für einen besseren, schöneren, fantastischeren Ort. Es wird ein vielschichtiger Abend mit Chor, Schlagzeugexzessen, Geschichten und Elektronik.

Apropos Jugendliche: Wenn ihr in Konzerte geht, nehmt Kinder mit! Eure eigenen, deren Freundinnen und Freunde, oder leiht euch die der Nachbar*innen aus, die freuen sich bestimmt genauso. Und es gibt auch neben unserem Stück viel für sie zu hören: Für die Kleinsten steht im November Sidney Corbetts »Tintenfischlady« auf dem Programm, und im Rahmen der Klangwerk- statt gibt es wie immer Konzerte und Performances für Kinder. Ende des Monats zeigt DieOrdnungDerDinge dann das Musik- theaterstück »Weltenwandern« für Kinder ab 10.

Im Dezember, wenn draußen Klänge, Getränke und Gebäck immer süßer werden, empfehle ich Konzerte neuer Musik zum Neutralisieren, beispielsweise das Konzert von Crippled Symmetries oder das des Synthesizer-Trios Lange//Berweck//Lorenz.

- Hannes Seidl 

Hannes Seidl (*1977) arbeitet als Komponist oft gemeinsam mit anderen Künstler*innen an Konzertmusik, Musiktheater und Installationen. Sein Schwerpunkt sind genreübergreifende Formate wie performative Ausstellungen oder Radiokonzerte. Hannes Seidl lebt in Frankfurt a. M.