Am anderen Ende des Kaninchenbaus. »The Extended Voice« von den maulwerkern im Rückblick

Während sich am frühherbstlichen Septembertag schon die Dunkelheit über Berlin legt, sind die Türen zum Ballhaus Ost noch verschlossen. Die Zuhörer*innen aber versammeln sich im Foyer. Beim Öffnen der großen maroden Doppeltüren eröffnet sich der Blick auf den weißen Boden vor den riesigen Zuschauerrängen. An diesem Abend des Monats der zeitgenössischen Musik wird er blau beleuchtet und fungiert als Bühne. Man hat sofort das Gefühl in einer anderen Welt, irgendwo tief im letzten Winkel eines Kaninchenbaus, gelandet zu sein. Fünf Notenständer stehen bereit und fünf Stücke sind es auch, die zu erwarten sind, drei davon Uraufführungen.

Das erste Stück, »Kartographie«, ist intensiv und betont von Anfang an, warum diese Veranstaltung unter dem Titel »The Extended Voice« läuft: Die Stimmen der maulwerker werden verfremdet und bewegen sich an den Grenzen des Menschlichen. Zwischendurch klingen sie wie gackernde Vögel, schallende Sirenen oder sogar Didgeridoos. Unterstützt wird die Vokalperformance von wechselnden Lichtspielen. Am Ende folgt großer Jubel, was nicht zuletzt auf die fantastische Ausführung der Maulwerker zurückzuführen ist.

Es folgt ein Solo mit dem Titel »O«, vokalisiert von Ariane Jeßulat. In ihm werden die Grenzen der menschlichen Stimme noch intensiver ausgelotet. Gesungen, gehaucht, gekreischt und gesprochen wird in diesem Stück in teilweise schnellen abwechselnden Folgen, was die Musik latent mehrstimmig erscheinen lässt. Durch die vielen verstellten Stimmen, die teilweise an Gollum aus Herr der Ringe erinnern und sich dann doch mit lieblichen Gesangstimmen abwechseln, wirkt diese Musik schizophren. Nach diesem Stück ist die einzig offene Frage: Wie kann Ariane Jeßulat so viele Stimmen aus sich herausplatzen lassen und dabei so unerschütterlich ruhig bleiben?

»Quintet 1: Five Voices« startet mit fünf Silhouetten im Gegenlicht, was optisch wieder in wundersame Welten entführt. Auch musikalisch wird dies unterstützt, da der Beginn zarte Klänge bietet. Allerdings wird die magische Andersartigkeit im Laufe des Stückes abgelöst durch klare Struktur: Zarte Geräusche wechseln sich immerzu mit mikrotonal verstimmten Sekunden ab. Die einzelnen Teile stehen wie unterschiedliche Skulpturen im Raum, jedoch unabhängig voneinander. Es gibt keine wahrnehmbare Entwicklung, was etwas ernüchternd wirkt und sich auch in einem verhaltenen Applaus niederschlägt.

Katarina Rasinski performt in der Uraufführung von »Rencontre 5« für Stimme und Zuspiel mithilfe eines Keyboards, Mikrofons und Lautsprechers, die alle ein Teil der Performance werden. Diesmal werden die Grenzen der menschlichen Stimme gänzlich überschritten. Das Werk spielt mit elektronischen Störgeräuschen und der vollkommenden Verfremdung der menschlichen Stimme. Stellenweise wird es akustisch dermaßen herausfordernd, dass manche im Publikum sich die Ohren zuhalten – auch die Grenzen der Zuhörer*innen werden offensichtlich gesprengt.

Das letzte Stück hat den markantesten Titel: »Mariupol«. Es ist das einzige Stück für alle sechs maulwerker und außerdem auch das einzige, das in drei Sätze eingeteilt ist: »Einbruch«, »Todeszeitpunkte« und »Gedenkminute«. Emotional werden nun alle wieder ruckartig in die Gegenwart geholt. Der erste Satz geht wie zu erwarten sehr laut los, beinhaltet sirenenartige Klänge und wird von kreischenden und klagenden Lauten durchzogen. Sofort macht sich ein unbehagliches Gefühl breit. Der zweite Satz ist dagegen aufgelockert und fast schon etwas wirkungsschwach. Im letzten aber verdunkelt sich die Stimmung, zu hören sind weinende Klänge gemischt mit erschrockenen Lauten und deutlichen Sirenenbezügen. Das Stück hat Wucht, es verlangt dem Publikum emotionale Arbeit ab.

Der Schlussbeifall ist dementsprechend tosend und würdigt sowohl die Komponist*innen als auch die maulwerker. Viele möchten danach den Saal nicht so recht verlassen, die Nachwirkung der Stücke ist noch deutlich spürbar. Erst beim Rausgehen fällt auf, dass die letzten 90 Minuten in einer anderen Welt stattgefunden haben. Beim Eintauchen in die regnerischen Dunkelheit dieser Septembernacht macht sich das Gefühl bemerkbar, noch nicht ganz aus dem Kaninchenbau herausgefunden zu haben.

Text: Mathilde Koeppel