»Erinnerung ist wie ein Muskel.« Marc Sinan über »Human Commodity«

Human Commodity

»Erinnerung ist wie ein Muskel.« Marc Sinan über »Human Commodity«

Während des Monats der zeitgenössischen Musik vereint das musikalisch-dokumentarische Memorial »Human Commodity« Musik mit 99 Berliner Geschichten der Zwangsarbeit während der NS-Diktatur. Die Kooperation der Marc Sinan Company, YMUSIC, des Dokumentationszentrums NS Zwangsarbeit und der Spreehalle Berlin wird am 17. September vorgestellt. Im Interview spricht Komponist Marc Sinan über das Erinnern, gesellschaftliche Herausforderungen und den Einsatz digitaler Mittel in musikalischen Projekten.

Wie entstand die Idee zu »Human Commodity«?

Vor drei Jahren bin ich mit der Marc Sinan Company nach Oberschöneweide gezogen, auf das ehemalige AEG-Gelände rund um die Reinbeckhallen. Wir wollten uns künstlerisch mit der Nachbarschaft vernetzen und sind dabei auf das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit auf der anderen Seite der Spree gestoßen – ein Museum, Teil der Topographie des Terrrors, das zur Berliner Museenlandschaft beiträgt.

Wieso ist dieses Dokumentationszentrum interessant für dich?

Seit dem Jahr 2006 beschäftigt sich das Zentrum mit dem Thema Zwangsarbeit in Berlin. Auch ich beschäftige mich schon lange mit dem Prozess des Gedenkens. Im Dokumentationszentrum war ich überrascht von der Dimension dieses Themas. Die Erinnerungskultur steht vor einer Herausforderung: Im Wettbewerb der Aufmerksamkeit um die Grausamkeiten der Verbrechen der NS-Zeit erscheint der Begriff »Zwangsarbeit« erstmal unkonkret.

Was bedeutete es, unter Zwang zu arbeiten?

Es handelte sich um eine Form moderner Sklaverei, bis hin zur vollständigen Entrechtung, des Missbrauchs von Menschen als Ware. Die schiere Zahl der im Nationalsozialismus unter Zwang Arbeitenden ist erschlagend: Im Deutschen Reich waren es 13 Millionen, in Berlin rund 500.000 Menschen. Allein in Berlin gab es an 3.000 Orten Unterbringungen für Zwangsarbeiter*innen. Es gibt keinen Kiez, in dem nicht Menschen unter Zwang gelebt haben. Sie bewegten sich für alle sichtbar durch die Stadt, auf ihrer Kleidung waren Symbole wie der Davidstern oder der Aufdruck OST zu sehen. Das muss das Stadtbild geprägt haben!

Teil des Projekts ist eine App, mit der sich das Publikum – eben ohne Zwang – durch die Stadt bewegen kann. Hing das auch mit der Corona-Pandemie zusammen?

Ja. Wir fragen uns, wie wir hybride Projekte schaffen können, die Partizipation ermöglichen und gleichzeitig sinnlich sind. Das war ein positiver Aspekt dieser Zeit. Noch sind wir in einer infantilen Phase im Umgang mit digitalen Medien. Ich würde das mit der frühen Phase im Film vergleichen, in der man alte Prinzipien des Theaters abgefilmt hat oder damit experimentiert hat, wie Narrative in einem neuen Medium funktionieren. Digitalität in der Kunst darf nicht verhindern, dass ein eigenständiges, komplexes, verfeinertes und sinnliches Werk entsteht. Wenn ich mir all diese gestreamten Formate anschaue, ist das in neun von zehn Fällen eine Repräsentation von etwas, das in Wirklichkeit bewegender zu erleben wäre.

Also muss man verhindern, dass Aufführungen durch digitale Mittel statisch werden?

Wenn ich in einem Raum sitze und jemandem zuhöre, der Cello spielt, habe ich eine andere sinnliche Erfahrung, als wenn ich mir auf einem Bildschirm ein Video davon ansehe. Das Video kann gut gemacht sein, aber es bleibt ein Abbild der Wirklichkeit. Es kann sie nicht ersetzen. Akustische und visuelle Digitalisate bedürfen einer Setzung, einer Haltung. Dadurch können sie etwas bieten, das eine Live-Aufführung nicht mit sich bringt: Präzision, eine Ästhetisierung.

Wie wirkt sich diese Haltung auf dein aktuelles Projekt aus?

Für »Human Commodity« haben wir von den 3.000 Orten, an denen Menschen unter Zwang gearbeitet haben, 99 ausgewählt, die an individuellen Biografien hängen. Ein Beispiel: Eine Frau, Sinaida Baschlai, arbeitete unter Zwang in Steglitz. Die Eigentümerin der Wohnung spielte ihr auf dem Klavier die »Mondscheinsonate« vor, um ihre Stimmung zu heben. Irgendwann fragte Sinaida, ob sie ein Konzert besuchen dürfe. Die Eigentümerin entschied, dass sie kein Konzert mit deutscher Musik besuchen dürfe und schickte sie ins russische Theater. Nicht alle Zwangsarbeiter*innen wurden gleich behandelt. Holländer*innen wie Kees Maas waren zivile Kriegsgefangene und hatten relativ viele Freiheiten. Sie konnten sich frei bewegen, erhielten Geld. Es gab verschiedene Kategorien, nach denen man bezahlt wurde. Das reichte von normaler Bezahlung, vergleichbar mit deutschen Arbeitnehmer*innen, bis hin zu keiner Bezahlung, wenn man zum Beispiel als Kriegsgefangener aus östlichen Regionen kam. Auch Jüd*innen, die aus dem KZ ausgeliehen wurden, um in der Waffenproduktion zu arbeiten, erhielten nichts. Die Zustände der Unterkünfte unterschieden sich ebenfalls stark. Einige waren bewohnbar, andere waren Baracken, die denen in KZs ähnelten. Das macht das Thema schwer fassbar. Es ist keine Aneinanderreihung von Schreckensgeschichten, sondern zeichnet das Bild von einer erschütternden, merkwürdigen Normalität in Berlin.

Werden in Schulen und in der Kunst zu oft dieselben Aspekte der Geschichte behandelt?

Ich glaube, dass Erinnerung wie ein Muskel funktioniert. Wir müssen unser Gedächtnis trainieren, wie wir unseren Bizeps trainieren. Mit »Human Commodity« leisten wir einen Beitrag dazu. Hier kann sich das Publikum kurze Geschichten anhören, zu denen jeweils ein musikalisches Solo gehört. Wir arbeiten zusammen mit dem Orchester des Konzerthaus Berlin, mit meinem Ensemble und einigen freien Musiker*innen. Man kann die 33-minütige Partitur als Puzzle zusammenfügen. Am Schluss endet das in einem jugendlichen Chor, der ein von Zwangsarbeiter*innen komponiertes Lied vertont: »Gegen die Herrschaft des Goldes, für ein leuchtendes Europa«, sangen sie. Und auch das beinhaltet eine erschütternde Wendung, wie ich während der Komposition erfuhr. Mir erschien das Lied zunächst als eine Art sozialistische Hymne für Europa. Jedoch bedienten sich die französischen Kriegsgefangenen, die es komponierten, mit der »Herrschaft des Goldes« an einem antisemitischen Code. Diese Ambivalenzen interessieren mich.

Wieso genau diese 99 Geschichten?

Eine Forscherin im Dokumentationszentrum, Lena Sommerfeld, hat mehrere Monate lang Orte recherchiert und zusammengetragen. Die Zahl 99 ist frei gewählt. Wir brauchten eine hohe Anzahl, die musikalisch aber umsetzbar blieb. Musikalisches Gedenken ist ein einfacher, schöner Vorgang. Man widmet jemandem eine Melodie oder ein Musikstück, ein*e Musiker*in spielt konkret für eine Person. Die Bezüge sind vielfältig, aber ich maße mir keine Vollständigkeit an – es ist assoziativ. Oft entsteht eine Reibung zwischen Text und Musik. Es ist nicht alles tränenreich. Manches ist musikalisch leichter als der Text, den man hört. So wie wir Menschen ja auch sind. Viele von uns erscheinen leicht und sind dann genau diejenigen, die es am schwersten haben – und umgekehrt. »Human Commodity« widmet jeder Geschichte eine Minute. Es gibt immer eine Verzahnung, wodurch aus dem vorangegangenen Stück etwas ins nächste übernommen wird, wie etwa das Tempo oder die Melodie.

Seit wann begleitet dich der Themenkomplex des Gedenkens?

Das hat mich schon immer begleitet. Ich wollte durch und mit Musik erzählen. Mit Nationalsozialismus setzte ich mich auseinander, weil meine deutsche Familie unter umgekehrten Vorzeichen Teil einer Tätergesellschaft war. Das Gleiche kann man über die türkische Gesellschaft auch sagen. Meine türkischen Verwandten waren glühende Kemalist*innen. Meine türkische Großmutter war hingegen ein armenisches Waisenkind, die während des Völkermords im Jahr 1915 ihre Familie verlor. Wegen dieser Spannung möchte und muss ich mich mit dem Erinnern und Gedenken beschäftigen.

Auch, um die Ambivalenzen der Geschichte sichtbar zu machen?

Das ist eine Herausforderung unserer Zeit. Viele wollen oder können nicht akzeptieren, dass Menschschein nicht schwarz oder weiß ist. Wir möchten alle Unschuldige sein. Aber wir sind qua unseres Lebens nicht mehr unschuldig. Das können wir schwer aushalten. Deswegen gibt es Stellvertreterkonflikte, an denen wir uns abarbeiten. Die Empathie ist unbemerkt in den Hintergrund getreten, die Debatten werden aggressiver. Wir müssen wieder empathiefähiger werden, um besser zusammenzuleben. Dazu ist ein Projekt, in dem man gemeinsam durch Berlin geht und auf musikalische Stolpersteine stößt, ein kleiner Beitrag.

Und was verbindest du persönlich mit Berlin?

Ich bin in Bayern groß geworden und liebe Berlin sehr in seiner Vernarbtheit. Hier bleibt man geerdet, stellt sich immer wieder infrage, weil eben nicht alles glattgezogen und schön ist. Wenn ich Berlin verlasse, vermisse ich die Freiheiten, die mir dort als Künstler geboten werden.

»Commodity« bedeutet »Ware«, hat eine Assoziation mit Materialismus. Können sich Menschen von Materialismus lösen? Sollten sie es?

Wir müssen Andere werden, ohne Andere zu werden. Mit dem Anderswerden sind wir schon einmal fürchterlich gescheitert. Anderswerden heißt oft: »besser werden als«. Das aber ist ein Teufelskreis. Als Gesellschaft diskutieren wir zum Beispiel erst jetzt konkret darüber, wie wir Gas einsparen können, um wirtschaftlich unbeschädigt durch den nächsten Winter zu kommen. Doch eigentlich gibt es einen wichtigeren Grund, Gas einzusparen: die Klimakrise. Das ist eine von diesen Ambivalenzen, die wir aushalten müssen. Beim Materialismus ist das ähnlich. Ich umgebe mich gern mit schönen Dingen, habe sieben Gitarren, weil ich sie liebe. Jedoch hätte es ohne Materialismus Zwangsarbeit nicht gegeben. Er ist das Ergebnis von einem Durst nach mehr. Er speist sich aus einer Angst vor dem Tod, den wir nicht annehmen können. Der Fantasie, dass wir uns für immer materialisieren könnten. Wir müssen das Schlechte in uns annehmen, um es zu überwinden. und um als Gesellschaft besser zu sein.

Das Interview führte Klaudia Lagozinski.