Im Zeitraffer

Bei der pyramidale#19 besticht das HYPER DUO mit sagenhafter Präzision und aberwitzigem Tempo

Wer sich traut, die vertraute philharmonische Konzertumgebung im Schatten des zu Ende gehenden Musikfests zu verlassen, wer den weiten Weg auf sich nimmt, musikalisch wie räumlich, der wird feststellen: es lohnt sich. Im Ausstellungszentrum Pyramide in Marzahn-Hellersdorf, wo im Rahmen des kleinen Festivals pyramidale in diesen Tagen wieder einige Konzerte mit zeitgenössischer Musik präsentiert werden, trifft man auf ein jüngeres Publikum, jüngere Komponist*innen, jüngere Musik. Auf der Bühne stehen: links ein Drumset, rechts ein Keyboard, und in der Mitte eine Leinwand im Format 4:3. Was zunächst ein bisschen an die monatliche Diashow des Wandervereins oder auch das lokale Konzert der Jugendband erinnern mag, entpuppt sich als etwas ganz anderes: Musik, wie man sie so rasant, so präzise, so verspielt selten gehört hat. Zu Gast ist das HYPER DUO aus der Schweiz, bestehend aus Keyboarder Gilles Grimaître und Schlagzeuger Julien Mégroz.

HYPER CUT heißt das Programm, welches das Duo aus Stücken von u.a. Wolfgang Heiniger, Sarah Nemtsov und Simon Steen-Andersen zusammengestellt hat. Der Anspruch ist es, mit den „Cuts“ ein Abbild der heutigen Gesellschaft zu schaffen, verrät der Programmtext, und das gelingt auch. Nur sind es nicht die Unterbrechungen und Klangwechsel selbst, die die wachsende Reizüberflutung darstellen, sondern vielmehr das irrwitzige Tempo, mit dem diese „Cuts“ aufeinanderfolgen. Es ist ein durchkomponiertes Programm, was das HYPER DUO bietet, ohne Pausen zum Durchatmen oder für Zwischenapplaus, das aber wohlüberlegt. Die Stücke und ihre Abfolge sind mit Bedacht ausgewählt, sie alle schweißt ihr hohes Tempo zusammen, ihre klangliche Vielfalt auf engstem zeitlichen Raum, ihr Spiel mit dem Metrum. Und doch bildet jedes Stück klangliche und inhaltliche Alleinstellungsmerkmale heraus.

Schon in den ersten Takten von Wolfgang Heinigers „Heimat II“ wird man in die Welt des HYPER CUT hineinkatapultiert: rasante laute Schlagzeugimpulse gepaart mit synthetischen Klangschlägen vom Keyboard. Das rhythmische Unisono und der Spaß am Chaos sind im ständigen Wechsel, metrische Modulationen am laufenden Band, dann plötzlich ein Gospel-Rhythmus, eine Sirene, sofort wieder Chaos. Das Stück ist kompositorisch filigran ausgetüftelt, die Keyboard-Klänge individuell und so gar nicht „stereotypisch digital“. Und es ist faszinierend, das Zusammenspiel von Grimaître und Mégroz zu beobachten, ganz auf den jeweils anderen fixiert, konsequent präzise in ihrem Zusammenspiel und in der klanglichen Ausgewogenheit. Während der schnellen Umbauten zwischen den Stücken werden kurze Interludien von Daniel Ghisi vom Band gespielt, elektronische Studien, assoziative, schnelle Samplefetzen. Da hat man mitunter das Gefühl, am Frequenzknopf eines alten Radios zu drehen und durch die Kanäle zu zappen.

Die assoziative Reizüberflutung bleibt in Sarah Nemtsovs „White Eyes Erased“ erhalten, jetzt auch mit Video, ganz kurz flimmern einzelne Bilder auf der Leinwand auf: gemalte und echte Gesichter, der Berliner Fernsehturm, dann eine ärmliche Stadtgegend. Klanglich besonders spannend ist das Megafon, mit dem Schlagzeuger Julien Mégroz ein komplexes Rauschen herstellt, oder aber auch mal hineinruft. Wortfetzen vom Tape - die Aussage von Nemtsovs Stück offenbart sich nur in Andeutungen, dafür ruft es aber mit großer Energie einen Gefühlszustand hervor: laut, düster und bedrohlich, irgendwie schlaflos. Danach reiht sich „Boire“ von Nicolas von Ritter-Zahony wunderbar in die „Cut“-Thematik ein, immer wieder wechseln sich rasante musikalische Patterns ab mit einer nicht nur klanglich reizvollen Sprachaufnahme eines alten Franzosen, der über Alkoholprobleme sinniert.

Wenn ein Ensemble in einem Programm neben Werken anderer Komponist*innen auch ein eigenes Stück spielt, kann man an diesem wunderbar beobachten, was der Gruppe selbst am meisten Spaß macht. In „Cadavre Exquis“ toben sich Gilles Grimaître und Julien Mégroz klanglich wie visuell aus, das Video von Robert Torche ist wie ein drittes Instrument: da sitzen die beiden auf dem Spielplatz eines Fast-Food-Geschäfts auf der Schaukel, dann spielt jemand Gameboy - und plötzlich bleibt alles stehen. Es sind wenige Momente der Stille, aber am ganzen Abend schaffen genau diese überhaupt erst die extremen Kontraste. „Look at those guys“, steht in großen Lettern auf der Leinwand. Schade, dass das Stück dann kurzzeitig zum Slapstick wird („do you really want them to compose music?“). Dem Publikum gefällt es. Und davon abgesehen ist auch das Stück aus eigener Feder eine ideale Ergänzung des Programms mit noch mehr Reizüberflutung und Spiel mit der Performance.

Den Abschluss bildet ein vergleichsweise leiseres Stück, Simon Steen-Andersens „Difficulties putting it into practice“. Er hat dabei seine Rechnung wohl ohne das HYPER DUO gemacht, die mit sagenhafter Präzision jetzt an einem Tisch sitzend musikalische Ereignisse mit Papier, Stift, Händen und Mund produzieren. Parallel dazu läuft ein Musikvideo auf der Leinwand über ihnen, in dem das Duo an wechselnden teils absurden Orten (im Wohnzimmer, auf den Bergen, mitten im Wasser) das gleiche Stück aufführt - synchron zu den live produzierten Tönen. Steen-Andersens Klänge sind ganz anders als die restlichen des Abends: Pusten, Papier-Reißen, Schnalzen, Schnüffeln und Kritzeln, und doch ist der Zusammenhang mit den anderen Stücken durch die hohe Ereignisdichte und den dialogischen Charakter völlig klar und gegeben. Das Video hätte übrigens das Zeug zum Youtube-Hit.

Was in Erinnerung bleibt, ist das Tempo und die Präzision, mit der das Duo filmreif seine Performance abliefert. Trotz dieser Virtuosität wird das Tempo nie zum sinnlosen Wetteifern, sondern steht immer im Dienst der Kunst. Und was noch bleibt, ist ein ganz bestimmter musikalischer Stil: laut, schnell, mit kindlicher Freude am gemeinsamen Musikmachen. Das ist Musik, die akademisch ist im positivsten Sinne und zugleich taugt zum Youtube-Hit. Musik, die in der Philharmonie genau so gut funktionieren würde wie im im Club. Und es gibt wirklich nicht viel Musik, von der man das behaupten könnte.

Jakob Böttcher