Verhaltene Facetten

Erst im Frühjahr war Georg Nigl an der Staatsoper Berlin in der Uraufführung von Violetter Schnee zu erleben – im kommenden Januar kehrt er für weitere Vorstellungen ans Haus Unter den Linden zurück. Nun hob er beim Musikfest Berlin mit Olga Pashchenko im Kammermusiksaal der Philharmonie den neuen Liedzyklus Vermischter Traum von Wolfgang Rihm aus der Taufe, umrahmt von Stücken Schuberts und Beethovens.

Die Kraft der Mitteilung

Auch wenn ein Notenpult den ganzen Abend vor Nigl platziert ist, erreicht er sein Publikum vom ersten Ton an. Kein Blick in die Blätter löst den Kontakt, weil keine Regung, keine Geste dem Zufall überlassen wirkt, sondern sich stets als Teil der Performance verstehen lässt. Ein Vortragender im eigentlichen Sinne ist es, der da steht, dessen Worte einem Mitteilungsbedürfnis entspringen: Diesen Eindruck verleiht neben der ungebrochenen Präsenz auch die bestechende sprachliche Artikulation. Bemerkenswerterweise singt Nigl die ausgewählten Schubert-Lieder in ihrer Originaltonart mit tenoralem Timbre, fokussiert den Klang teils aber etwas zu weit vorne. Nur an wenigen Stellen entgleitet die Stimmkontrolle, wird die Linie bröckelig, doch nie brüchig.

Romantische Behutsamkeit

Bedacht lässt das Duo Schuberts Lieder zwischen verhaltener Schlichtheit und empfindsamer Hingebung balancieren. Bricht Nigl aus der behutsamen Stimmgebung nur an ausgewählten Stellen, wie bei der Forelle und der Fischerweise, bewusst aus, so macht Pashchenko feinfühlig auf das Geschick der rhythmischen Setzung aufmerksam, das Schuberts Klavierparts prägt. Wohl geführt umranken den Gesang die sanft-satten Klänge des Hammerflügels. Der Nachbau eines Originals von Conrad Graf aus dem Jahre 1819 und damit genau aus der Zeit, aus der das Rahmenprogramm stammt, verschafft der Singstimme Raum, statt ihr dramatische Manier abzuverlangen. Seine eigentümliche Wirkung entfaltet sich voll in Beethovens Liederkreis An die ferne Geliebte, wenn die finale Wendung jubelnd das Anfangsthema rekapituliert, das auf diesem Instrument kontrastierend noch ungebändigter aufjauchzt.

Trost als Entwicklung

»Mein sind die Jahre nicht die mir die Zeit genommen / Mein sind die Jahre nicht / die etwa möchten kommen / Der Augenblick ist mein / und nehm’ ich den in acht / so ist der mein / der Jahr und Ewigkeit gemacht.« – Das Gedicht Betrachtung der Zeit unterliegt als verbindendes Element dem wiederkehrenden Andante-Teil von Rihms Zyklus, der sorgsam zusammengestellte Worte Andreas Gryphius’ vertont. Doch begnügt sich Rihm nicht dabei, diese Wiederkehr auf musikalischer Seite zu vollziehen. Er entwickelt, variiert, transformiert und reflektiert so selbst den Gang der Zeit in der musikalischen Form – nicht immer konsequent, aber lebendig! Nigl soll Rihm selbst zur Komposition inspiriert haben, als er ihm in einer schwierigen Zeit einige Gedichte Gryphius’ als Trost schickte.

Bis an die Existenz

Den herben Versen des Dichters, der in den ersten Monaten des Dreißigjährigen Kriegs geboren wurde, verleiht Rihms musikalische Sprache bedrückende Reibungskraft. Mal wuchtet Pashchenko dissonante Klänge heraus, mal gleiten Akkorde verloren wie durch luftleeren Raum. Nigls stimmlicher Reichtum an Farben und Facetten kommt indes im vielseitigen Klangkonstrukt voll zum Tragen: Ob rhythmisch deklamierend bis hin zu Melodramen oder durch die großen Sprünge und rapiden Registerwechsel. Kraftvoll gipfeln die verschiedenen Textbausteine in Nr. 5 Lento, ma non troppo in extatischer Verkrampfung, schwemmen dann aber wieder hinüber in einen ruhigen Abschluss, der mit den Worten endet, die später auch den ganzen Zyklus beenden und den Namen verleihen: »Itzt was und morgen nichts / und was sind unser Thaten? / Als ein mit herber Angst durchaus vermischter Traum.« Kein Euphem – nur nackte Existenz. Der letzte Ton verklingt wie in die Ewigkeit, ins Nichts. Nach langer Pause Applaus von denen, die nach der Pause geblieben sind. Im über tausend Leute fassenden Kammermusiksaal wirken sie zusammengerottet wie ein verschworener Kreis. Ehe er mit Schubert den Abend beschließen wird, wendet sich Nigl noch unabgesprochen in charmantem Wienerisch zu Wort: Der Wolfgang Rihm ist ein wirklich sehr guter Freund von mir und ich freue mich sehr, dass ich das heute machen kann. Eine Freundschaftsbekundung, besiegelt mit düsteren Klängen, stellvertretend für dann, wenn man Freunde am meisten braucht.

Konstantin Parnian