Klingendes Getümmel. Das Festival für selbstgebaute Musik 2022 im Rückblick
Es ist warm in Berlin. Die Sonne knallt auf das Gelände des alten Holzmarkts, an dem die Spree gemächlich vorbeizieht. Die Türen des Katerblau sind mittlerweile geschlossen, die feierfreudigen Raver*innen erholen sich von der gestrigen Nacht. An diesem Vormittag schlendern stattdessen Familien und Sonntagsausflügler*innen über das Gelände. Alles scheint wie immer – wäre da nicht die Musik. Obwohl das Wort Musik vielleicht nicht das richtige ist, um die ertönenden Klänge zu beschreiben. Hier und da ist ein Trommeln zu hören, dort ein Pfeifen und Klirren, zwischendrin ertönt plötzlich eine Melodie. Es schallt aus den Baumkronen heraus und vom Flussufer her.
Die verzweigten Wege des Holzmarkts werden von aufgebauten Ständen geziert, an denen sich die Masse vorbeischiebt. Es schwirren viele Sprachen durcheinander, Kinder springen umher, manche Besucher*innen halten Bierflaschen und Weingläser in den Händen, einige sind barfüßig. Ab und an formen sie sich zu kleinen Gruppen, die sich um die Stände zingeln – es scheint etwas zu erkunden zu geben. Aber was ist denn nun der Anlass für dieses bunt-klingende Gewusel?
Ganz einfach: Der Holzmarkt 25 hat sich an diesem ersten Sonntag des Monats für zeitgenössische Musik zu einem akustischen Spielplatz verwandeln lassen. Das Festival für selbstgebaute Musik geht im Jahr 2022 in die sechste Runde und bringt Musiker*innen und Künster*innen aus aller Welt zusammen. Sie bereiten Installationen vor, bieten Workshops an oder performen musikalische Stücke. Trotz der merklichen Unterschiede zwischen ihren einzelnen Projekten und Ansätzen teilen sie alle denselben Gedanken: Sie wollen im gemeinsamen Austausch für ein klangvolles Erlebnis sorgen und setzen dabei nicht nur in musikalischer, sondern auch handwerklicher Hinsicht auf Kreativität. Aus alltäglichen Gegenständen werden Instrumente gebastelt oder neu erfunden, mit denen ein unvorhersehbares Soundspektakel erschaffen wird.
So führt zum Beispiel Erwin Stache seine orgelnden Kuckucksuhren vor. Eine Kuckucksuhr allein wäre nichts Besonderes. Wenn aber fünf Uhren gemeinsam zum Klingen gebracht werden und sie alle dabei einen anderen Ton treffen, bildet sich ein Ensemble, das Musikstücke von Beethoven und Mozart performen kann. Ein paar Schritte entfernt präsentiert Andy Vazul seine WINDWALL: Eine kleine Mauer, die sich aus gesammelten Mundharmonika-Stimmplatten zusammensetzt. Durch die Kraft des Windes entsteht ein sanfter Sound, der mit den Blätterrauschen der Bäume duettiert.
Zu hören und zu sehen gibt es also allerhand, aber auch eigenhändiges Tüfteln ist gefragt. An einem der Stände werden Rasseln aus vermeintlichem Müll gebaut. Joghurtbecher und Klopapierrollen erleben hier einen zweiten Frühling. Wer die eigenen Kopfhörer verbummelt hat, kommt bei diesem Festival sogar in den Besitz neuer – beziehungsweise neu alter. Aus alltäglichen Materialien werden »Kopfhörer« gebaut, die als eigenständige Instrumente erscheinen und dabei den Sound ihrer Umwelt in eine rauschende Geräuschkulisse verwandeln. Statt Bluetooth und Schaumstoffpolster kommen Dosen, Schrauben und Draht zum Einsatz.
Dann nichts wie auf zur Bühne im Freien. Vier Männer, die unter dem Namen Atonor auftreten, verwandeln dort ratternde Maschinen in tönende Instrumente, deren Sounds spielerisch ineinander verschmelzen. Später performt das Duo gamut inc. in den Räumlichkeiten des SÄÄLCHENS. Mit seiner computergesteuerten Instrumentalmusik verbreitet es dynamische Synth-Melodien, die den gedimmten Festsaal in eine klirrende Kapsel verwandeln.
Der Holzmarkt ist an diesem Tag eine einzige Soundwolke, durch die seine Besucher*innen schweben. Während im ersten Moment so viele Eindrücke aufeinander prasseln, dass gar nicht genug Zeit verbleibt, diese sorgfältig zu ordnen, zieht das Spektakel bereits weiter zur nächsten Installation. Sich den verschwimmenden Klängen anzuschließen, lautet die Devise. Ein klingendes Getümmel, das auf Sorgfalt, Handwerk und Herzblut der Beteiligten erbaut wurde und bei den Anwesenden Erstaunen und Neugier hervorruft.
Den Nachbericht verfasste Wencke Riede.