Releases des Monats Juli
Jedes Stück Musik hat nicht nur eine Geschichte, sondern erzählt auch etwas über Geschichte beziehungsweise reflektiert im Kleinen die größeren historischen Zusammenhänge, in denen es entstand. So zum Beispiel die Compilation »Sounds of Absence« auf dem Field-Recordings- und Klangkunst-Label Grünrekorder. Über 17 Stücke hinweg befassen sich darauf so unterschiedliche Künstler*innen wie Alvin Curran, Haco oder Viola Yip mit der Frage, wie der gesellschaftliche Stillstand während einzelner Lockdowns und die damit einhergehende soziale Isolation sich auf ästhetischer Ebene äußerten. Das Ergebnis ist so heterogen wie die konzeptionellen Ansätze der Beteiligten, die Compilation als solche aber ein wichtiges historisches Dokument.
Der ebenfalls auf »Sounds of Absence« mit einem Stück vertretene Joseph Kamaru beziehungsweise KMRU nutzt das Album »Temporary Stored« hingegen für eine kritische Intervention bezüglich der Aneignung, Archivierung und Musealisierung, heißt auch Kommodifizierung, der Artefakte früherer Kolonien durch Institutionen des globalen Nordens. Dafür arbeitet er mit dem Klangarchiv des Royal Museum of Central Africa und versteht die verwendeten Klänge als Verbindungslinien zwischen verschiedenen Generationen beziehungsweise der Vergangenheit und der Zukunft. Somit stellen die sechs Einzelstücke sowie das 50-minütige radiophonische Stücke gleichermaßen aktiv geübte historische Kritik dar, wie sie selbst die Bedingungen von Geschichtsschreibung als solche infrage stellen.
À propos Zukunft: Frédéric Acquaviva hat für sein kürzlich auf CD veröffentlichtes Mammutprojekt, das Klangkunststück »[səminal]«, 124 Musiker*innen um die Aufnahme von jeweils einem einzigen Ton auf dem Instrument ihrer Wahl angefragt, um damit ein von Jacques Lizène, Joan La Barbara, Loré Lixenberg, ORLAN und Wills Morgan vorgetragenes Narrativ vom Ende der Welt – und also der Geschichte überhaupt – zu vertonen. Es geht erst 10.000, dann mehr als 50 Milliarden Jahre in die Zukunft. So wie sich Acquavivas zwischen den Jahren 2020 und 2021 entstandenes Stück einerseits wie »Sounds of Absence« als Reaktion auf konkrete tagesaktuelle Umstände verstehen ließe, so stellt es andererseits wie »Temporary Stored« die Frage nach der allzu menschlichen Konstruktion der Geschichtsschreibung überhaupt.
Bevor das Magnetfeld der Erde erlischt und ein riesiger Meteorit darauf einschlägt, ist indes noch etwas Zeit für die folgenden 16 Musikveröffentlichungen und drei Bücher über, die wir Ihnen und Euch ans Herz legen wollen. Immerhin!