Martin Grütter: »Eingehegte, gezähmte Kunst wird überflüssig«

Jetzt bloß nicht die Utopien aufgeben, fordert Martin Grütter. Es brauche dazu aber langfristiges Vertrauen, schreibt der Komponist und »Schwelbrand«-Leiter in seinem Statement für #FreieSzeneFreierFall.

Zunächst jenseits aller pragmatischen Überlegungen: Die schlimmste Gefahr für die Kunst in Zeiten von Corona sehe ich darin, dass wir kleinmütig werden und unsere künstlerischen Utopien aufgeben. Dass wir schon froh sind, überhaupt noch irgendwas machen zu dürfen. Dass unser Denken nur noch darum kreist: »Ist dies und jenes in den bestehenden Grenzen erlaubt?« und nicht mehr um: »Wie können wir alle Grenzen sprengen?«

So sinnvoll die aktuellen Maßnahmen sind: wir müssen aufpassen, dass sie nicht dauerhaft unser Denken prägen. Denn eingehegte, gezähmte Kunst wird überflüssig.

Corona nimmt uns frühere Selbstverständlichkeiten. Wir können die Situation zum Anlass nehmen, um bisher selbstverständliche Mechanismen neu zu bewerten. Aus der Distanz zum laufenden Betrieb scheint mir für die freie Szene vor allem eins immer wichtiger zu werden: Langfristigkeit. Projektweise Förderungen von Jahr zu Jahr, wie sie die Szene nach wie vor dominieren, sind für kleine, einmalige, anlassbezogene oder etablierte Produktionsformate noch vergleichsweise gut geeignet. Doch sie erschweren die Entstehung größerer, spezialisierterer Projekte, die große Vorlaufzeiten und mehrjährige Aufbauarbeit brauchen. Gerade dauerhafte, von äußerer Sicherheit und innerem Wagemut getragene Zusammenarbeiten sind aber nötig, um wirklich neue Formate zu erschaffen und sie so überzeugend auszuarbeiten, dass tatsächlich neue Publikumsschichten erschlossen werden können. Das braucht Zeit, Geld, Konsequenz – vor allem aber langfristiges Vertrauen in die künstlerische Arbeit der Beteiligten.

Ein entscheidendes Mittel wäre, neben Einzelprojekten verstärkt Gruppen und Formate zu fördern. Die Basisförderung des Berliner Senats geht hier bereits einen guten Weg – allerdings ist sie mit ein bzw. zwei Jahren zu kurz. Sie richtet sich zudem vor allem an bereits etablierte Gruppen – was im Hinblick auf nachhaltige Förderung absolut sinnvoll ist; allerdings wäre die (mehrjährige) Förderung künstlerischer Aufbau- und Entwicklungsarbeit ebenso wichtig. Der bisherige Fokus auf Einzelproduktionen schafft weder langfristige Sicherheit, noch lässt er Raum für utopisch tastende künstlerische Arbeit, deren Ergebnisse sich nicht vorab in 1.900 Zeichen Antragstext packen lassen. Letztendlich erschwert dies – in meinen Augen – Innovation.

Zu meinen schönsten Erfahrungen des vergangenen Jahres gehören die Momente, wo mir die Distanz zum kurzatmigen Betrieb den Freiraum verschafft hat, an diversen irrealen und ausgefallenen Projekten zu arbeiten, für die es im Alltag kaum je Raum und Zeit gibt. In diesen Momenten wehte plötzlich wieder der Wind der Freiheit, der Kunst und Musik aufregend und grenzensprengend macht. Vielleicht kommen wir ja aus der aktuellen Krise heraus mit einer neuen Wertschätzung für das früher Allzuselbstverständliche – und im besten Fall praktisch gerüstet mit den richtigen Instrumenten, um den Fortbestand radikaler und innovativer Kunst dauerhaft noch besser zu sichern.

  • Martin Grütter, Komponist und Künstlerischer Leiter Schwelbrand