Alle wollen Entgrenzung

Olga Neuwirth und Louis Andriessen bringen auf sehr unterschiedliche Weisen Geschichte und Außermusikalisches in die zeitgenössische Musik.

Wäre das nicht traumhaft: Ein Theater stellt einer Komponistin für ein paar Monate Raum und Orchester zur freien Verfügung, um vor Ort ein Stück zu entwickeln. Ginge es nach Thorleifur Örn Arnarsson, überließe er der Komponistin Olga Neuwirth sofort die Volksbühne. Leider hat wohl der Intendant auch noch ein Wörtchen mitzureden. Der isländische Regisseur und die Österreicherin trafen sich im Roten Salon der Volksbühne zum Gespräch. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe Perspektivwechsel laden field notes und die Berliner Festspiele Künstler*innen aus verschiedenen Disziplinen ein. Sascha Ehlert moderierte, der sonst mit seiner Zeitschrift »Das Wetter« popkulturelle Themen behandelt. Neuwirth ist mit drei Konzerten eine zentrale Figur des diesjährigen Musikfests. Ihre Arbeit liegt in den Grenzbereichen zwischen Musik, Film, Theater oder Literatur. An einem Doppelabend in der Philharmonie erklangen zwei Werke, die sich sowohl mit Außermusikalischem als auch mit traditionellen Gattungen auseinandersetzten.

Eine Taxifahrt später spielte das Ensemble Modern unter der Leitung Brad Lubman Neuwirths „locus…doubloure…solu“, „Déserts“ von Edgar Varèse und „De Stijl“ von Louis Andriessen. Olga Neuwirth beschreibt ihr Stück „locus…doubloure…solus“ als Klavierkonzert, in dem das Klavier einen Schatten hat. Der Schatten des Solisten Hermann Kretzschmar saß auf der anderen Seite der Bühne als Sampler, der die Töne des Klaviers um einen Viertelton transponiert enthält. Wie für einen Schatten üblich ist er mal kaum wahrzunehmen, mal färbt er die ganze Landschaft dunkeln ein. In sieben Sätzen löste sich das Klavier ins Orchester auf und umgekehrt. Das Ensemble spielte durchsichtig, aber ohne die Wucht des Klangstrudels zu bremsen.

Im Gespräch vor dem Konzert betonte Neuwirth, wie schwierig es als Komponist*in sei, die Kontrolle über die eigene Musik zu behalten. Wenn die Komponistin überhaupt bei Proben eingeladen ist, darf sie nur andächtig lauschen. Dirigentin und Musiker wissen selber wie die Musik gespielt wird. Von den akustischen Gegebenheiten abgesehen. Das Wissen um den Aufführungsort ist ein Privileg des Kompositionsauftrags. Moderne Technik kann auch die Akustik genau steuern – Neuwirth hat selbst in »Encantadas« die Akustik einer venezianischen Kirche eingefangen. Solche Arbeiten sind aber aufwendig und die Ausnahme. Das macht es einfacher, zu kontrollieren, was gespielt wird, denn Musik vom Tonband löst das Problem des Verlusts der Kontrolle teilweise. Edgar Varèses »Déserts« von 1954 ist eine Pionierarbeit in diesem Feld und stellt ein schrilles Ensemble aus Bläsern und Perkussion neben drei bearbeitete Aufnahmen von Fabrikgeräuschen und Schlagwerk. Das Zuspiel verriet sein Alter durch Rauschen und Knistern aber machte die Momente nur noch gespenstischer, in denen die Musiker*innen aufhörten zu spielen und die Musik weiterlief.

Auch bei Louis Andriessens »De Stijl« verstummt das Ensemble an einer Stelle. Dort hüpft allerdings ein Klavier hinter den Zuschauern in eine Boogie-Woogie Einlage. Eine weitere Ebene unter vielen Referenzen. Andriessens Titel bezieht sich auf das niederländische Bauhausäquivalent und strukturiert sein Werk anhand eines Piet Mondrian Bildes. Vier Sängerinnen des Chorwerk Ruhrs sangen einen theoretischen Text der Bewegung und Catherine Millet erzählte eine Anekdote über einen tanzenden Piet Mondrian. Das war alles handwerklich gut gemacht, kam aber in der Philharmonie nicht richtig zusammen.

Am nächsten Abend kehrten Neuwirth und Andriessen an denselben Ort zu einem gänzlich anderen Konzert zurück. Das Londoner BBC Symphony Orchestra spannte den historischen Rahmen wesentlich weiter: mit Modest Mussorgskis »Eine Nacht auf dem kahlen Berg« und Jean Sibelius‘ »Symphonie Nr. 5« ging Dirigent Sakari Oramo bis ins 19. Jahrhundert zurück. Dazwischen Neuwirths Trompetenkonzert »…miramondo multiplo…« und Andriessens »The only one«, letzteres zum ersten Mal auf dem europäischen Festland.

»The only one« zitiert und reflektiert die Gesten der Popmusik. Zum großen Orchester singt eine Jazzsängerin Gedichte von Delphine Lecompte. Die Performance der Sängerin Nora Fischer ging an dem Abend wesentlich über reinen Gesang hinaus. So sprang sie in glitzerndem Jäckchen, rotem Top und gelben Socken auf die Bühne. Im Lauf des Stücks, während sie die Gedichte rezitierte, glich sie ihr Outfit immer mehr den weißen Fliegen und schwarzen Abendkleidern des Orchesters an. Es spricht nichts dagegen, den heiligen Ernst, der ein Sinfonieorchester umgeben kann, mit solchen performativen Einlagen zu stören. Allerdings hätte man sich das etwas konsequenter gewünscht als die paar Hüpfer durch die Streicher ans andere Ende der Bühne.

Effektvoller, da mit besserem Gespür für das richtige Maß, war Neuwirths »…miramondo multiplo…«. Es verweist auch auf Ausdrucksformen des Jazz, besonders Miles Davis, allerdings introspektiver und melancholischer als Andriessens Potpourri. Gewidmet ist das Stück dem Trompeter Håkan Hardenberger, der auch an diesem Abend die fünf Sätze mit toller Expressivität spielte.

Gerahmt wurden die beiden Zeitgenossen von Mussorgski und Sibelius. Mussorgskis einziges größeres Orchesterwerk „Eine Nacht auf dem kahlen Berg“ spielten die Londoner in Rimski-Korsakows Bearbeitung. Die dramatische und abwechslungsreiche Sinfonische Dichtung kontrastierte gut mit der großformatigen Sibelius Sinfonie aus den Endtagen der Gattung.

Heutzutage könne man ja als Komponistin das Wort »Sinfonie« nicht mehr verwenden, scherzte Neuwirth im Gespräch mit Arnarsson. An beiden Abenden hörte man, wie sie versucht, die Tradition ins 21. Jahrhundert zu überführen – erfolgreich. Sie prüft Formen und Klänge auf ihre Relevanz und verfremdet sie ( »locus…doubloure…solus«) oder aktualisiert sie (»…miramondo multiplo…«). Dabei sind die Verweise auf die künstlerische Welt außerhalb der Musik subtil aber immer spürbar. Ihre Stärke zeigte sich besonders in der Konfrontation mit Andriessen, dessen Gegenwartsbezüge bei allem Einfallsreichtum oft beliebig wirkten und dessen Kompositionen etwas zu oft unkritisch mit dem Kitsch der Popmusik kokettierten.

Henry Salfner