Tunings of the World 2.0: »Eine fortwährende, undurchsichtige, ausgedehnte Gegenwart« – Laure M. Hiendl im Gespräch
Im Rahmen von »Tunings of the World 2.0« stellt Laure M. Hiendl am 29. Oktober in der Fahrbereitschaft (Teilelager) das Werk »In Abeyance« (zu Deutsch: »im Schwebezustand«) vor. Was dieses mit den Theorien von Lauren Berlants zu tun hat, wie ein Orchester zum Sampler umfunktioniert werden kann und wo die Komposition an R. Murray Schafers Idee des Soundscapes andockt – und wo nicht – erklärt Hiendl im Interview.
Den Startpunkt deines Werkes markierte eine Passage aus dem Buch »Cruel Optimism« von Lauren Berlant: »In the cinema of precarity, the shift in the portrayal of immobility from a normative, conventional, habituated solidity to a living paralysis, playful repetition, or animated still-life has become a convention of representing the impasse as a relief from the devastating pain of this unfinished class transition.« Was hat dich an diesem Gedanken insgesamt beziehungsweise konkreter dem Bild des »animierten Stilllebens« so gereizt?
Das »animated still-life« drückt eine Art von Zeitlichkeit aus, die mich faszinierte: Auf eine bestimmte Art und Weise werden die scheinbaren Gegensätze von Bewegung und Stillstand miteinander verbunden. Berlants Schreiben ist von einer unglaublichen Präzision, Eleganz und von einer poetischen Kraft gekennzeichnet, durch die Berlant – ähnlich wie in Texten Édouard Glissants oder Fred Motens – begriffliche Gegensätze poetisch verbunden und aneinander durchgearbeitet hat. Durch diese poetische Verbindung eröffnet sich ein anderer Raum, der aus den Prozessen historisch-linearen Denkens heraustritt und andere Denkweisen ermöglicht.
Diese Kritik an historisch-linearem Denken entspringt in Berlants Buch aus einer umfangreichen Gesellschaftskritik, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann. Mich faszinierte aber die Konsequenz, die Berlant daraus für ästhetische Formen und Formate gezogen hat: Nicht die linearen Dramaturgien, von denen die Formensprache westlicher Konzertmusik bis heute geprägt ist, sind die adäquaten Formen unserer Zeit, sondern das, was Berlant als den »impasse«, als Sackgasse, oder die »stretched-out-present« bezeichnet: eine Art fortwährende, undurchsichtige, ausgedehnte Gegenwart, die sich nirgendwohin entwickelt – vor allem nicht nach vorn, höchstens seitlich vielleicht, lateral …
Das animierte Stillleben fängt in seinem bewegten Stillstand genau dieses Zeitempfinden ein, das ich in »In Abeyance« klanglich verwirklichen wollte. Und auch »In Abeyance« beinhaltet genau diese Gegensätze –natürlich ist es auch ein Konzertstück, das einen Anfang und ein Ende hat –, das aber zwischendurch hoffentlich doch einen anderen, nicht-teleologischen musikalischen Erfahrungsraum eröffnet.
Für »In Abeyance« nutzt du das Ensemble als »eine Art Sampler«, wie du schreibst. Wie genau müssen wir uns das vorstellen?
Im weiteren Nachsinnen über die Figur des »animated still-life« kam mir der Gedanke, dass ich mit meinen selbst programmierten Phasing-Samplern – beispielsweise in meinen Werken »2. Streichquartett« oder »microphase« – tatsächlich schon so etwas wie musikalische Standbilder hergestellt habe. Indem diese Phasing-Sampler aus einem Sampling-Fenster kleine Klang-Grains aus immer leicht unterschiedlichen Positionen auslesen, erzeugen sie eine Art bewegtes Standbild eines Klangobjekts, das wir aus einer ähnlichen, aber fortwährend leicht veränderten Perspektive betrachten können.
Diesen Prozess wollte ich auf Notation übertragen und habe letztlich ein Patch programmiert, das mir Tabellen mit bestimmten Auslesepunkten in Sechzehntel-Rasterung generierte, aus denen ich in einem langen Copy-and-paste-Prozess die Partitur zusammengesetzt und diese dann manuell überarbeitet und verfeinert habe. Mit dieser Partitur spielt das Ensemble nun das, was sonst ein elektronischer Sampler abspielen würde – das Ensemble wird damit letztlich zu einem instrumental-akustischen Sampler.
Das Ausgangsmaterial für dieses akustische Sampling bildet das Ballett »Job« von Vaughan Williams. Was macht dieses Werk in musikalischer und thematischer – die Geschichte Hiobs lässt sich gar als biblische Vorlage für den »grausamen Optimismus« interpretieren, von dem Berlant schreibt – Hinsicht für dich interessant?
Ich habe mich lange mit der Frage beschäftigt, was als Ausgangsmaterial für einen instrumental-akustischen Sampler dienen könnte und habe dabei klassische und zeitgenössische instrumental-akustische Musik, Spektralanalysen und elektronische Musik ausprobiert. Dabei wurde klar, dass die »gehobene« klassische Musik, was auch immer das heißen mag, oder gar modernistische Neue Musik zu diesem doch eher postmodernen Zugang des Samplings überhaupt nicht passen würde. Das hohle Pathos Neuer Musik oder der klassischen Avantgarde hat darin keinen Platz. Ich suchte nach einer anderen Art von Kitsch und wollte ursprünglich noch etwas Trivialeres als Ralph Vaughan Williams verwenden – nämlich Filmmusik.
Wenn dieses Konzept des Samplings etwas wert ist, dann nur, wenn sie es schafft, ein kurzes, banales, triviales Sample auf 45 Minuten zu strecken – und es dabei interessant macht. Wäre das Ausgangsmaterial irgendeine kunstvolle musikalische Phrase bedeutender Musik gewesen, wäre dies der Verdeutlichung des Sampling-Prozesses nur im Weg gestanden. Nun sind Filmmusikpartituren leider sehr schwer zugänglich. Der Epilog zu Vaughan Williams »Job« erschien in einer Spotify-Playlist mit dem Thema »relaxing orchestra music« und mit seinen banalen, modal-harmonischen Wendungen war es das perfekte Ausgangsmaterial. Vaughan Williams ist ja auch für viele Filmkomponist*innen nach wie vor ein wichtiger Bezugspunkt.
Thematisch hat die Figur des Hiob überhaupt nichts mit meinem Projekt zu tun.
Inhaltlich näherst du dich der Affekttheorie und damit sozialen, implizit aber auch über Berlants Werk genauso aber politischen und ökonomischen Fragen an. Welchen Zusammenhang siehst du zum Oberthema der Veranstaltung, die sich ihren Obertitel von R. Murray Schafers »The Tuning of the World« leiht?
Schafers Buch ist mir nur in Auszügen bekannt, aber mit der aus heutiger Sicht plump anmutenden Naivität, mit der er gesellschaftspolitische Entwicklungen mit musikalischen Strukturen verschränkte, kann ich wenig anfangen.
Wenn man aber darüber nachdenken möchte, welche Instrumente und musikalischen Werkzeuge unsere Hörkultur der letzten Jahrzehnte nachhaltiger als alles andere durchdrungen und transformiert haben, kommt man an dem Sampler und der Drum-Machine nicht vorbei. Diese Maschinen ermöglichen eine derart harte Metrisierung der Zeit und damit des musikalischen Zeitempfindens, wie sie es vorher in dieser Form einfach nicht gab. Dazu kommt beim Sampler die Möglichkeit, mit vorgefundenem Material Neues zu formen – und man hat die perfekten Instrumente für eine musikalische Postmoderne – die die Neue Musik noch kaum bis überhaupt nicht erreicht zu haben scheint.
Diese Techniken beeinflussen mein musikalisches Denken und Hören mehr als alles andere, und deshalb war es für mich nur folgerichtig, diese Strukturen als einen essenziellen Bestandteil postmoderner Soundscapes – um Schafers Begriff hier zu bemühen – auf die Instrumental-Akustik zu übertragen.