Pionier*innen der elektronischen Musik – Katja Heldt
Wenn ich an die Anfänge der elektroakustischen Musik in den frühen Tonstudios denke, habe ich schwarz-weiß Fotografien von Männern mit Hornbrillen in weißen Hemden und straffen Anzügen vor Augen. Mal allein, mal in kleinen Gruppen lehnen sie konzentriert vornübergebeugt über komplizierte Gerätschaften. Sie heißen Karlheinz Stockhausen und Herbert Eimert, Pierre Schaeffer und Pierre Henry, Luciano Berio und Vladimir Ussachevski. Auf den Bildern strahlen sie Autorität aus, es geht um ernste, schwer zugängliche Musik, es geht um visionäre Ideen und große Namen. Nach Frauen sucht man auf diesen Bildern meist vergeblich. Und wenn doch, dann bleiben sie im Hintergrund. Ihre Namen finden kaum Erwähnung in der musikhistorischen Literatur und ihre Stücke sind selten in Konzert- und Festivalprogrammen zu hören. Und doch gibt es sie, die Pionier*innen der elektronischen Musik, die ebenso wie ihre männlichen Kollegen großen Erfindergeist hatten, spannende Musik komponierten und neue Instrumente erfanden – auch wenn sie erst viel später dafür honoriert wurden. In den 1950ern und 1960ern wurden bis auf wenige Ausnahmen die Frauen, die in den Studios arbeiteten und komponierten, in der Regel nicht ernst genommen, hatten wenig Zugang zu den Geräten und konnten ihre eigenen kompositorischen und technischen Ideen selten umsetzen. So manches Stück wurde nachts produziert, wenn niemand sonst das Studio nutzte.
Auch heute sind Frauen und nicht-binäre Gender in der elektronischen Musik noch weit in der Unterzahl, werden weniger unterstützt und weit weniger gespielt. Aber es regt sich etwas, immer mehr Konzertreihen und Festivals, wie etwa das Heroines of Sound in Berlin, widmen sich den aktuellen Künstler*innen sowie den Pionier*innen der elektronischen Musik. Es werden immer häufiger Bücher geschrieben, Fernseh- und Radiobeiträge produziert und Ausstellungen kuratiert, die den Missstand aufheben wollen und die der Geschichte dieser Frauen gewidmet sind – ein Glück, denn diese Musik lohnt sich zu hören!
Die deutsch-amerikanische Komponistin und Pianistin Johanna Beyer (1888–1944) komponierte mit »Music of the Spheres« (1938) eines der ersten Stücke für elektronische Instrumente überhaupt.
https://www.youtube.com/watch?v=_REVFN7A6_4
Die Theremin-Virtuosin Clara Rockmore (1911–1998), geboren im litauischen Vilnius, kann als erste Pionierin der elektronischen Musik angesehen werden. Sie arbeitete eng mit dem Erfinder des Instruments Léon Theremin zusammen und wirkte auch auf die Entwicklung des Theremins ein – etwa, indem die Höhe reduziert wurde, damit die Performer*innen besser gesehen werden.
https://www.youtube.com/watch?v=uuKBPEDU-W0
Else Marie Pade (1924–2016) war nach dem zweiten Weltkrieg die erste Dänin, die elektronische Musik komponierte und die im dänischen Radio ausgestrahlt wurde. Als Widerstandskämpferin war sie im zweiten Weltkrieg aktiv bis sie während der deutschen Besetzung ins Gefängnis kam. Da sie aufgrund von Komplikationen nach der Haft nicht mehr Klavier spielen konnte, widmete sie sich nach Kriegsende aus der Not heraus der Komposition und der elektronischen Musik.
https://www.youtube.com/watch?v=28TqFKy4lG0
Zu den bekanntesten Komponistinnen mag wohl Pauline Oliveros (1932–2016) aus den USA gehören, die 1996 die erste Direktorin des San Francisco Tape Music Center (heute Center for Contemporary Music) am Mills College wurde. Danach lehrte sie als Musikprofessorin an der University of California in San Diego. Sie entwickelte das Deep Listening, eine meditative Praktik der Achtsamkeit auf alle umgebende Klänge, die sie im 1985 gegründeten Deep Listening Institute vertiefte. Als Feministin setzte sie sich schon immer stark für eine neue Musikerziehung sowie für eine Genderbalance ein.
https://www.youtube.com/watch?v=_QHfOuRrJB8
Auch die Französin Éliane Radigue, 1932 in Paris geboren, ist mittlerweile eine der meist aufgeführten Komponistinnen aus jener Zeit. Sie arbeitete eng mit Pierre Schaeffer und Pierre Henry im Studio d’Essai am Radiodiffusion-Télévision Française (RTF) und später in der Groupe de Recherches Musicales (GRM) zusammen. Mit ihrem Mann, dem Künstler Arman, hatte sie drei Kinder, für die sie ihre musikalische Karriere zehn Jahre lang pausierte. Danach nahm sie ihre Arbeit als Assistentin für Pierre Henry 1967-68 wieder auf, entschied sich aber 1970 dafür, auf eigenen Beinen zu stehen und alleine an ihren Stücken zu arbeiten. Die Besonderheit ihres Stils sind sich langsam ausbreitende klangliche Formen, die sie hauptsächlich mit dem ARP 2500 Synthesizer generierte. In den frühen 2000er Jahren lernte sie den Cellisten Charles Curtis kennen und begann auch für akustische Instrumente zu komponieren, mit denen sie ähnliche Klangeffekte ausprobierte.
https://www.youtube.com/watch?v=1RrsiGmLp_E
Die in Argentinien geborene Beatriz Ferreyra (*1937) lebte zunächst in den USA und zog 1961 nach Paris, wo sie 1963 zum ersten Mal mit der musique concrète und der Arbeit der GRM in Kontakt kam. Bald begann sie im Studio der GRM Pierre Schaeffer zuzuarbeiten, selbst zu unterrichten und auch eigene Kompositionen zu verwirklichen. 1970 löste sie sich aus dem Umkreis von Schaeffer und arbeitete selbstständig an ihren Stücken, blieb der Philosophie der musique concrète aber bis heute treu. Aus ihrer über Jahre hinweg gepflegten Materialsammlung von Alltags- und Naturgeräuschen sowie elektronisch synthetisierten Klängen schöpft sie bis heute ihre vielfältige, oftmals collagenhafte Musik.
https://www.youtube.com/watch?v=j57ErZZgrw4
Gleich zwei Britinnen dürfen auf dieser Liste nicht fehlen. Delia Derbyshire (1937–2001) ist legendär für ihre Titelmusik der Serie Doctor Who. Sie war die erste Frau, die jemals ein elektronisches Musikstudio, nämlich den BBC Radiophonic Workshop leitete.
https://www.youtube.com/watch?v=CM8uBGANASc
Daphne Oram (1925–2003) arbeitete auch beim BBC und war die erste Frau in England, die in Vollzeit als elektronische Musik-Komponistin arbeitete. 1958 erfand sie den Oramics Synthesizer. Außerdem war sie die erste Frau, die ein eigenes persönliches elektronisches Musikstudio entwickelte.
https://www.youtube.com/watch?v=hLYVFnQzjtI
Elżbieta Sikora (*1943) ist eine polnische Komponistin und Tontechnikerin aus Lwów. Sie studierte bei Pierre Schaeffer und François Bayle in Paris sowie mit John Chowning an der Stanford University. In den frühen 1970ern ging sie zurück nach Warschau und gründete das KEW Komponistenkollektiv.
https://youtu.be/BgueNY2ecaM
Selbstverständlich ist diese Liste noch lange nicht vollständig und es lohnt sich auch folgende Namen zu hören:
Monique Rollin, Christine Groult, Françoise Barrière, Michèle Bokanowski, Joanna Bruzdowicz, Annette Vande Grone, Bebe Barron, Alice Shield, Maryanne Amacher, Teresa Rampazzi, Micheline Coulombe Saint-Marcoux, Marcelle Deschênes und Norma Beecroft.